Hongkong-Impressionen
Ich hatte schon immer den Verdacht, dass in China außer dem Landesumfang und der Bevölkerung alles ein wenig kleiner ist als anderswo. Am Lijang-Fluß sah ich die kleinste Fähre, in Kunming gibt es die kleinste Moschee, auf Lantau kann der Reisende das kleinste Fort besichtigen, von allen großen Strömen zwängst sich der Yangste durch die engsten Schluchten. Der Chinese ist auch nicht so groß wie der Europäer, kleiner sind auch die Fahrradreifen, die Ventile, die Essensrationen, und wo in Europas zwei Erdnüsse in ihrer holzigen Hülle stecken, sind es in China drei kleine.
Von dieser Regel macht Hongkong natürlich eine Ausnahme, weil Hongkong ohnehin die zur Stadt gewordene Ausnahme ist. Hier leben zwar auch im Stadtteil Mong Kok auf kleinstem Raum (einem Quadratkilometer) die meisten Menschen (über 165.000), doch die drangvolle Enge und die ungewöhnliche Topographie treibt alles in die Höhe und damit der Größe entgegen. Wahrlich klein ist der alte Flughafen Hongkongs, jene vom Victoria Peak aus zu sehende Asphaltrollbahn, die zwischen Kowloon und Victoria ins Meer strebt, aber riesengroß sind die internationalen Maschinen, die hier landen. Noch größer musste die fliegerische Kompetenz der Piloten gewesen sein, um hier eine reibungslose Landung hinzulegen und am allergrößten war das Gruseln der Passagiere, wenn der Jumbo in Schräglage über Kowloon-Tong und Ma Tua Kok die Rollfelder von Kai Tak anflog. Während eines solchen Anfluges auf Hongkong erschienen die Wolkenkratzer von Kowloon fast wie ein überdimensionales Nagelbrett, wären da nicht die zahlreichen Hügel und Berge der New Teritories und der eigentlichen Insel Victoria – dazu jede Menge waschküchenartiger Nebel und unberechenbare Winde, so dass jede Landung auf Hongkong mit zum Spannendsten gehörte, was man vor der Inbetriebnahme des neuen Flughafens als Linienpassagier erleben konnte.
Trübe und verhangen ist der Himmel in Hongkong jeden Tag, so dass die Wolkenkratzer ihrem Namen alle Ehre machen, doch was ihre Zahl und Massierung betrifft, so ist noch kein Ende in Sicht: jedes Jahr wachsen neue und noch höhere Gebäude aus einem immer knapperen und somit auch immer kostbareren Boden in den Himmel. Ästhetisch anspruchsvolle Konstruktionen wie das Hotel Mandarin, das Bond-Center, dessen zwei verglaste und futuristisch gestaltete Bürokomplexe einander gegenüberstehen wie arbeitsbereite Roboter oder der Aluminium-Palast der Hongkong and Shanghai Bank entspringen dem teuersten Baugrund der Welt, – aber auch hässliche Missgeburten aus Zement in den Peripherien, aberwitzige Betonkonstruktionen, die aussehen wie überdimensionale, quer gestellte Hollerith-Karten, versehen mit tausenden von Augen, die einmal zu Fenstern werden sollen. Und im Western-District von Victoria-Island möchte man unwillkürlich in Deckung gehen, kommt man an den baufälligen Bleistift-Hochhäusern vorüber, einige stets zur Ausbesserung mit kilometerlangen Bambusgerüsten und Plastikhüllen umgeben, als wolle der Verpackungskünstler Christo im Umfeld der Ladder Street sein ultimatives Hauptwerk schaffen.
Hongkong ist zur urbanen Erscheinung herangereifte universale Knappheit – der Knappheit an Platz, an Zeit, an Geld, aus der gleichwohl in jener mythischen Metamorphose, die der moderne Kapitalismus mit der ältesten Märchen gemeinsam hat, jener trügerischer Überfluss erzeugt wird, nach dem sich das Mutterland verzehrt. Knapp ist der Platz in der U-Bahn, knapp bemessen sind die Überholmöglichkeiten des Fußgängers auf der Nahten oder der Chatham Road, knapp sind die Hotelbetten, die Taxis, ja sogar das Fast Food ist knapp, weil es zu dem Wenigen gehört, was in Hongkong noch relativ preiswert ist. Knapp ist der Lebensraum, so dass in den Vorstädten die Müllcontainer in den Nächten zu Schlafstätten werden – ähnlich geräumig wie die Wohnkäfige in den Trabantensiedlungen von Tsuen Wan.
Rund um den Tai Mo Shan, den höchsten Berg der Kronkolonie, wird die Erde umgegraben, Buchten werden zugeschüttet, Waldreste verschwinden, um immer neuen Raum für menschliche Behausungen zu schaffen. Eine Fahrt durch die Gebiete der New Territories stimuliert Imaginationen vom Endzustand einer übervölkerten Welt, von einer am Ende der Geschichte übrig gebliebenen sarggroßen Lebenswelt menschlicher Ameisen. Dafür existiert in Victoria und Kowloon das größte Markenartikel-Angebot pro Quadratkilometer, der Ausblick vom Victoria-Peak auf das nächtliche Hongkong gehört zum Beeindruckendsten, was es an nächtlichen Skylines überhaupt zu sehen gibt. Die Gerüche und Geräusche der Nachtmärkte von Yau Mai Tai oder im Western District suggerieren eine sinnliche Präsenz chinesischen Lebens, wie sie auch in Wuzhou oder Chongking nicht intensiver zu haben ist.
Hongkong erleben heißt: sich auf der Kanton-Road das Geschick von hauptberuflichen Mantikern aus der Hand lesen zu lassen oder den Laptop mit den neuesten Daten in der U-Bahn speisen, Tee trinken im Umkreis der Argyle Street, umtönt vom Gepiepse hunderter kleiner Singvögel, die in Deckenkäfigen aus Holz gefangen gehalten werden, Hongkong erleben heißt, mit dem Doppeldeckerbus durch winzige Seitenstraßen fahren und der Versuchung widerstehen, den Anwohnern die zum Trocknen aufgehängte Wäsche vom ersten Stock zu stibitzen.
Diese und ähnliche Bilder illustrieren nicht nur einfach die viel bemühte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die zum Wesen der Urbanität überhaupt gehört und von der im Stillen ja immer die Hoffnung besteht, dass sich das Ungleichzeitige als defizienter Modus des unaufhaltsamen Fortschritts alsbald verflüchtige – es ist das Nebeneinander des Unvereinbaren, von Hovercraft und Dschunke, von Räucherstäbchen und mobilem Taschentelefon, der betrunkenen Chinesen auf den Wiesen des Kowloon Parks und der adrett gestylten Hongkong- Yuppies, die jeden Morgen mit ihrem unglaublich blank gewichsten Schuhwerk die Glaspaläste der großen Geldhäuser stürmen, der Familien, die auf den angefaulten Kähnen im Taifun-Hafen leben und ihren Nachwuchs mit Stricken an den Mästen sichern, damit sie nicht ins Hafenwasser fallen und der Schickeria, die ihren Nachmittagstee im Regents nimmt – im Angesicht der durch die dunkle Scheibentönung ins Unwirkliche verschobenen amphitheatralischen Szenerie der Victoria Skyline. Sie alle haben nichts gemeinsam außer dem Impuls, der das Western dieser Stadt ausmacht: „mutual profits“, gemeinsamer Nutzen, wie auf den Schildern der ältesten Handelshäuser von Hongkong zu lesen stand, man könnte es auch klarer formulieren: die Gier – nach Überleben, Leben, Besserleben.
Wer sich dieses Prinzip in sinnlich fassbarer, gleichwohl ästhetisch veredelter Anschaulichkeit vor Augen führen will, kann vor der Auffahrt des Conrad-Hotels Kirk Newmanns Skulpturengruppe „Menschen von Hongkong“ betrachten. Hier kämpfen nicht wie auf den Friesen des Pergamon-Altars Götter und Giganten um eine geordnete Welt, sondern eine Ansammlung von sechzehn überlebensgroß dargestellten Hongkong-Chinesen repräsentiert die durch keine sichtbare Gemeinsamkeit verbundenen Kampfalltag in der Arena Hongkong.
Ganz zur rechten des Skulpturenfundamentes springt eine Gestalt mit flatternden Rockschößen und Aktentasche gleichsam aus dem Bild heraus, den ausgestreckten Arm auf ein imaginäres Business gerichtet, mit dem Rücken zu ihm steht als Reminiszenz an das versinkende alte Hongkong von Yau Mai Tai ein alter Mann mit seinem Singvogelkäfig. Zwei Kleinkinder mit Naschhaftem und Spielzeug, den Szeptern des Konsums, werden von einer Großmutter in eben der gekrümmten Haltung gemustert, mit der die Bäuerinnen im ländlichen China die Reissetzlinge pflanzen. Frauen stehen herum, mit Taschen und Einkaufstüten behangen, eine hat den Schirm wie einen Knüppel in der Faust, ein Tai Shi-Aktiver sucht den Einklang von Ying und Yang, sein steinerner Nachbar forscht nach dem Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage über das mobile Telefon. Schließlich hat der Künstler die sechzehnte Gestalt einige Meter abseits der Hauptgruppe platziert, sie hat den Oberkörper etwas zurückgebeugt und hebt die Hand zur Warnung als könnte das System der unverbunden-hektischen Betriebsamkeit jeden Augenblick wie eine Seifenblase zerplatzen.
Hongkongs repräsentiert das Nebeneinander des Unvereinbaren als urbanes Gestaltungsprinzip, asiatische Traditionen und enthemmter Kapitalismus, Kreativität und Lebensgier erzeugen die Ausdrucksformen einer Massenkultur, die sich in ganz Asien auf dem Vormarsch zu befinden scheint und in der der erschrockene Europäer die pazifische Weltkultur des neuen Jahrtausends zu erkennen glaubt: die Agglomeration der Zufälligkeit. Von diesem Grundmuster sind alle Merkwürdigkeiten dieser an Absonderlichkeiten so reichen Stadt zu verstehen. So ist der Ocean-Park in der Nähe von Aberdeen ein Gleichnis der Stadt Hongkong im Kleinen. Hier gibt es alle Sensationen, die das asiatische Gemüt erfreuen: eine Orca-Show, Looping-Riesenräder, dreidimensionales Mowie-Spektakel, Fast-Food und die Illusion authentischen Erlebens. Doch der Zugang zu all diesen Attraktionen ist nur über ein Einheitsticket zu einem wahrlich gepfefferten Preis möglich, so dass bei diesen Konditionen fast Alle auch tatsächlich Alles benutzen wollen: Warteschlangen wie im Sozialismus sind die Folge, und was als nachmittägliches Familienmoratorium von den Plagen einer überfüllten Stadt geplant war, ähnelt nun dem Raum- und Freizeiterleben in einer durchschnittlichen Hongkonger U-Bahn während der Hauptverkehrszeit.
Die Orte der Ruhe befinden sich in Hongkong anderswo und oft an überraschender Stelle. Winzige Wasserfälle, ein hölzerner Pavillon im kantonesischen Stil, kleine herausgeputzte Chinesenkinder auf einem gepflegten Rasen,Büroangestellte in Markenanzügen das Jackett lässig über die Schulter geworfen, flanieren den See des Hongkong-Parks entlang, eine winzige Oase inmitten all der Bank- und Hotelriesen in Victoria-Central . Im Umkreis des altertümlichen Legislative Council-Buildings treffen sich Sonntags und nach Feierabend die Heimwehkranken: deutsche und französische Trainees, englische Familien im Kolonialdienst und philippinische Kindermädchen.
Auf dem Victoria-Peak, am Ende der Tram-Bahn, die alljährlich Millionen Menschen besteigen, um eine der beeindruckensten Panoramen der Erde zu erleben, ganz in der Nähe der kleinen Aussichtsplattform, vermittelt eine ständige Fotoausstellung frühe Ansichten aus einer Zeit, in der noch alles ganz anders war. Vergilbte Fotos hinter Glas zeigen eine leere Bucht, in der man kaum Kowloon und Victoria zu erkennen vermag – man sieht spärlich bewachsene Felsen, bescheidene Hafenanlagen, Stapelhäuser und einstöckige Holzhäuser mit den typischen Kolonialarkaden. Erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wird die Umgebung der Stadt durch Wanderpfade erschlossen, und ein solcher Weg führt ab 1880 auch auf den höchsten Punkt der Kronkolonie, auf einen 554m hohen Peak, der wie damals alles Beachtenswerte im britischen Weltteich – sei es ein Wasserfall, ein See oder eine bemerkenswerter Aussichtspunkt – seinen Namen nach der Queen Victoria erhielt.
Schon um die Jahrhundertwende wurde dieser Victoria-Peak durch eine Bahnverbindung erschlossen, und noch während China unter den Nachwehen des Boxeraufstandes und der ausländischen Intervention litt, erbaute sich der Gouverneur von Hongkong auf dem Peak seine luftige Residenz. Ihm folgten wohlhabende Kolonialbeamte in gebührenden Abstand, und bald wurde es auch für die reicheren Chinesen gute Sitte, an den Flanken des Peak zu wohnen. Schon Andre Malraux, den es in der kommunistischen Phase seines Lebens in den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach Hongkong verschlug, notierte:“ Dieser Felsen von Hongkong ist ein naturhaft solides Ungetüm aus dunkler Materie. Eine Linie von weiß schimmernden Kugeln umschließt wie ein Perlenhalsband, den Peak, und von den Häusern sieht man nichts als ein unglaublich eng besätes Lichterfeld, das, immer höher aufsteigend und, wie die schwarze Felsmasse, allmählich zergehend, sich endlich verliert in das schwül-flammende Sternenmeer.“
Für die Hemingway-Gefährtin Martha Gellhorn war der Peak in erster Linie ein lebensgefährliches Hindernis für die kleine DC-3, mit denen sie während des chinesisch-japanischen Krieges von Hongkong aus zu riskanten Reportagen nach Chongking aufbrach. In 14.000 Fuß Höhe sah sie gleichzeitig die Lichter auf dem Peak und die Beleuchtungsanlagen der japanischen Armeen auf dem gegenüberliegenden Festland, ehe sich die Maschine im Schutz der Wolken an den japanischen Abfangjägern vorbeimogelte.
Mit der Ankunft der wirtschaftstüchtigen chinesischen Emigranten aus Shanghai im Jahre 1949 begann dann der kometenhafte Aufstieg der Stadt, und ein noch immer beschauliches Hongkong, das sich bis dahin nur unwesentlich vom benachbarten Macao unterschieden hatte, durchlebte seine Metamorphose zu eine Modellstadt des lupenreinen Kapitalismus. Heute umfasst der Anblick vom Victoria-Peak auf die Bucht von Hongkong mit einem Blick das Endprodukt dieser Entwicklung: einen rastlosen Organismus der Verwertung, eingezwängt auf ein winziges Territorium , hässlich im Einzelnen wie alles Geschäftige, aber grandios in seiner Gesamtansicht und sogar von ästhetischem Rang, wenn sich über Hongkong der Schleier der Dunkelheit niedersenkt. Wie gigantisch beleuchtete Bienenwaben, wie ein Lebewesen mit Millionen funkelnder Augen, dessen Geräusche wie der Klang einer überweltlichen Klimaanlage die gesamte Bucht erfüllen, liegt Victoria zu Füßen des Betrachters, In futuristischen Dimensionen ragt das nach oben hin wie eine Rakete zulaufende Hauptgebäude der Bank auf China in den nächtlichen Himmel, einst als „Dengs letzte Erektion“ verspottet und als das höchste Gebäude Asiens gefeiert, dann wieder übertroffen vom 87stöckigen Central Plaza in Wan Chai – und nächstes Jahr wird ein anderer Riese dem wolkenverhangenen Himmel am nächsten sein Schwarz ist das Wasser, das unterbrochen von den Lichtem der zahllosen Dschunken, Schlepper, Containerschiffe, Fähren und Dampfer, Victoria von Kowloon trennt, eingegrenzt durch einen funkelnden Saum einer wild zerklüfteten und glitzernden Uferkette, und wie ein dunkler Rand verliert sich die nächtliche Gesamtansicht nach Norden, wo einst das alte China begann, dass sich anschickt ein gigantisches Hongkong zu werden.