Nur ein Punkt in der Weite des Ozeans

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Rarotonga – Impressionen einer südpazifischen Insel

Ein hellblauer Teppich, überwölbt von weißen Schönwetterwolken und ausgeleuchtet von der milden Sonne des südlichen Pazifik – das ist die Ansicht ozeanischer Unendlichkeit, die der Flugpassagier zwischen Samoa und Tahiti Stunde um Stunde aus einer Höhe von achttausend Metern bestaunen kann. Alles ist blau: der Stille Ozean auf der Landkarte, das Meer unter dem Flugzeug, und sogar die Stewardessen bedienen im taubenblauen Kostüm. Von Australien, Neuseeland und Samoa aus östlich werden die polynesischen Inseln immer kleiner, und für einen Moment fürchtet man, die Maschine könnte in dieser Grenzenlosigkeit ihr Ziel verfehlen. Dies wäre nichts Neues: Eine von Mexiko aus gestartete spanische Expedition, die im Auftrag Philipps II. nach sagenhaften Goldimperien in der Südsee fahnden sollte, segelte 1595 an Inseln mit bemerkenswert schönen Menschen vorüber und landete viel weiter westlich in Melanesien auf einer Insel ohne Gold, aber voller Menschenfresser. Captain Cook durchquerte fast zwei Jahrhunderte später den Südpazifik auf der Suche nach der legendären Terra australis, landete auf einigen Atollen und hinterließ in diesem Winkel der Erde nichts als seinen Namen für ein paar weitverstreute Inselchen, die seit dem 19. Jahrhundert als „Cook Islands“ in die nun immer vollständigeren Atlanten der Welt eingezeichnet wurden. Den größten und schönsten unter den fünfzehn Erdflecken in der südlichen Mitte des Stillen Ozeans hat er wahrscheinlich wie Moses das Gelobte Land nur von ferne gesehen: Rarotonga, das Juwel der Südsee, dem sich die Maschine nun nähert, von dem aber noch immer nichts zu sehen ist. Überhaupt: Fünfzehn winzige Inseln, von einer launischen Natur auf einer Fläche von fast zwei Millionen Quadratkilometer Ozean verteilt, sind eine ungerecht karge Erinnerung an den letzten großen Weltumsegler – etwa im Vergleich zum geschwätzigen Amerigo Vespucci, nach dem ein ganzer Kontinent benannt wurde. Andererseits: Kann es für einen Seefahrer eine passendere Ehrung geben als die Patenschaft für ein Territorium, das zu fast 99 Prozent aus Wasser besteht?

Plötzlich und unvermittelt sind wir gelandet, und wer nicht am richtigen Fenster saß, hat den Blick auf die Hauptinsel der Cook Islands verpasst. Unter den Flughäfen der Erde ist der von Rarotonga wohl auch deswegen einer der winzigsten, weil die gesamte Insel kaum größer ist als etwa Chicago O’Hare oder J. F. Kennedy in New York. Mitten in einer bescheidenen Glashalle, in der die Gepäckausgabe, die Zoll- und die Paßkontrollen abgewickelt werden, spielt ein sehr englisch wirkender Banjospieler zur Begrüßung der wenigen Touristen auf einem kleinen Podest muntere Südseeweisen. Mit polynesischer Freundlichkeit und britischer Akribie werden die Einreiseformalitäten abgewickelt, tief blickt mir der wuchtige Zollinspektor in die Augen, als wolle er prüfen, ob sich hinter meiner Erscheinung nicht etwa doch einer jener wenig geschätzten „Low-Budget-Touristen“ verberge, auf deren nicht besonders ertragreichen und umweltbelastenden Besuch man auf den Cook Islands gerne verzichtet. Hat der Reisende diese Musterung überstanden, geleitet ihn eine würdige ältere Dame, eine Mischung zwischen polynesischer Königinmutter und englischer Gouvernante, gleichwohl mit Blumengirlanden bekränzt, zum Informationsschalter und zum Taxistand.

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Klein ist schön. Jeder Bundesligazahlmeister müsste verzweifeln, wenn regelmäßig nicht mehr als die gesamte Einwohnerschaft Rarotongas als zahlende Zuschauer zu den Heimspielen erschiene, und doch sind die gut zehntausend Menschen, die auf der Insel leben, schon weit mehr als die Hälfte der Gesamteinwohnerzahl der Cook Islands. Bei solch bescheidenen Dimensionen mag sich der Besucher fragen, ob es sich bei diesem Fleckenteppich im Ozean überhaupt um einen eigenen Staat handelt, ob er über einen Sitz bei den Vereinten Nationen verfügt und gar einmal Mitglied des Weltsicher-heitsrates werden könnte, was allerdings die Polynesier, die ihr Land mit Stolz und Freude bewohnen, nie sonderlich beschäftigt hat. Nach ihrer Unabhängigkeit im Jahre 1965 sind sie einfach in der einst vom britischen Empire verfügten Assoziierung mit Neuseeland verblieben und ganz zufrieden, Währungs-, Finanz- und Außenpolitik von der Regierung in Wellington erledigen zu lassen. Den geschichtlichen Hintersinn dieses nützlichen Arrangements versteht der Reisende allerdings erst, wenn er bei einer seiner Erkundungen die Muri-Lagune erreicht, einen Bilderbuchsüdseestrand mit kalkweißem Sand, smaragdgrünem Wasser und fotogenen kleinen Inselchen vor der Küste, dessen in malerischer Schräglage dem Horizont entgegen-gereckte Palmen einst den Bewohnern Rarotongas den Weg zur Besiedelung Neuseelands gewiesen haben mögen. Jedenfalls soll nach der mündlichen Überlieferung der Inselbewohner von dieser Stelle aus – etwa in der Zeit, als die Hanse-Koggen die Ostsee befuhren – eine kühne Kanu-Truppe die fast viertausend Kilometer lange Seereise angetreten und so erfolgreich bewältigt haben, dass die neuseeländischen Maoris eigentlich als Nachfahren der Cookies zu gelten haben.

So klein die Insel Rarotonga ist, verfügt sie doch über einen Hauptort: Avarua, die bei solchen beschaulichen Größenverhältnissen zweifellos alles überragende Metropole der gesamten Cook Islands, in der mit über 5000 Menschen über ein Viertel der gesamten Bevölkerung lebt. Auf den ersten Blick mag diese Dorf-Hauptstadt vielleicht manchem Weltenbummler ein wenig zu provinziell erscheinen. Tatsächlich ist die malerische Siedlung im Schatten der wildromantisch gezackten Maungatea und Ikurangi weniger ein Kind der Exotik als des europäischen Geistes. Der europäische Geist, der in seiner spanischen und englischen Seefahrervariante zunächst an Rarotonga vorübersegelte, faßte erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Gestalt britischer Geistlicher der London Missionary Society auf der Insel Fuß. Dem wortgewaltigen Father John Williams und seinen tahitianischen Laienhelfern gelang es, die Einheimischen nachhaltig davon zu überzeugen, dass ihre lockere Lebensführung dringend der puritanischen Veredelung bedürfe, weil andernfalls schreckliche Krankheiten und Höllenqualen das bislang so ahnungslose Wohl-ergehen der Polynesier bedrohen würden. Die Kulturgeschichte des Westens und der Südsee ist dabei nicht frei von Befremdlichkeiten, fügten doch die christlichen Missionare auf allen südpazifischen Inseln dem Lendenschurz der polynesischen Jungfrau im Interesse der Keuschheit ein busen-verhüllendes Oberteil hinzu, gänzlich unfähig, sich auch nur vorzustellen, dass sie damit eine Vorform jener aufreizenden Bademode konzipierten, die in späteren und gottloseren Zeiten als Bikini ihren Siegeszug um die Welt antreten sollte.   Wer jedoch an einem der Traumstrände von Rarotonga sich so zeigt, riskiert einen Gefängnisaufenthalt wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Jedenfalls leisteten die Väter der London Missionary Society ganze Arbeit. Wenn sie auch den Bau einer katholischen Kathedrale gleich an der Uferstraße von Avarua nicht verhindern konnten, bekennen sich doch heute fast drei Viertel der Cookies zur Staats- und Landeskirche der „Cook Islands Christian Church“, und jeden Sonntag strömen die Menschen im weißen Festtagsstaat zu den Kirchenbänken, lauschen den Worten temperamentvoller polynesischer Savonarolas, senken die Köpfe und gedenken ihrer Sünden, um nachher in einem furiosen Kirchengesang die Gnade des Herrn zu preisen. In einer so frommen Stadt sind die Straßen natürlich so sauber, dass darunter schon fast wieder das exotische Ambiente leidet. Adrett und gediegen liegen die niedrigen weißen Holzhäuser hinter gepflegten Gärten, die polynesische Familie verspeist das Taro-Gericht auf der Terrasse, und sogar die freundlichen Hunde, die vor dem Eingang im Palmenschatten dösen, lassen sich, ohne zu knurren, den wuscheligen Schädel kraulen. Es gibt niedliche kleine Eisläden mit Namen wie „Mammas Shop“ oder „Cpt. Cooks Ice Corner“, italienische Restaurants und ein wenig besuchtes Yankee-Café, in dem Südsee-Heavy-Metal aus den Lautsprechern dröhnt. Die einzige Bar des Ortes, „Bananas Corner“, macht meist schon vor zweiundzwanzig Uhr den Laden dicht. Die Vergnügungen, an denen sich die Gäste in Avarua laben können, sind subtilerer Natur: Manche fahren ein wenig mit den nach philippinischem Vorbild grell bemalten Jeepneys durch den Ort, andere beobachten den gravitätischen Spaziergang polynesischer Großfamilien: Wuchtig wie Suomiringer schreiten Vater und Mutter über den Bürgersteig, meist bekleidet mit einem weißen Baumwollhemd und einem einfachen sariähnlichen Umhang, der von der Hüfte bis zu den Sandalen reicht, gefolgt von zahlreichen dunkelhaarigen Kindern, bei denen noch nichts auf die zukünftige Massigkeit hindeutet. Die wirkliche Attraktion Avaruas aber sind die abendlichen Tanzveranstaltungen, die auf den Cook-Islands im Unterschied zu vielen besuchteren Inseln der Südsee noch nicht zu einer Karikatur verkommen sind. Vielleicht gehören sie sogar zu den wenigen altpolynesisch-sinnlichen Kulturgütern, die die christliche Rundumerneuerung des 19. Jahrhunderts unbeschadet überstanden haben.   Hier sind die Menschen in der Südsee wirklich so schön, wie es die Reiseberichte immer wieder beschwören – unglaublich gut gewachsen, Männer wie Frauen mit Früchten und Gräsern geschmückt, mit Bewegungen voller Grazie und Anmut. Die Cookies halten sich mit Recht zugute, die besten Tanzgruppen Polynesiens hervorzubringen, und ein abendlicher Rundgang durch die Seitenstraßen Avaruas öffnet die Augen für die Pflege dieser Tradition. Es gibt regelrechte Tanzschulen, in denen jung und alt jeden Abend unter freiem Himmel vor dem strengen Blick eines Maestros die komplizierten Schrittfolgen uralter Tanzkultur einüben. Der Reisende, der ungewollt zum Zeugen einer solchen Übung wird, erlebt eine Szenerie mit einer fast bedrückenden Idylle an der Grenze zum Kitsch, und doch ist er in solchen Momenten nicht Statist einer Traumschiffsendung, sondern Zaungast des Lebens.

Wer immer schon geahnt hat, dass Schönheit und Winzigkeit auf eine besondere Weise harmonieren, wird sich bestätigt fühlen, wenn er an einem einzigen Tag bequem und mit einem Fahrrad die gesamte Insel umrundet. Vergleicht man Rarotonga mit einem Paradiesapfel, den die Götter mitten in den Ozean legten, dann startet man in Avarua etwa genau da, wo sich der Apfelstiel befinden müsste. Man fährt die Ara Metua nach Osten, passiert die einzige Zahnklinik des Staates, radelt weiter an Hotels vorüber, in deren Gärten neuseeländische Rentner einen friedvollen Lebensabend genießen, und erreicht die bereits erwähnte Muri Beach gegenüber den kleinen Inseln Motutapu, Oneroa und Koromiri. Im Süden der Insel rückt die Straße bis auf wenige Meter an den Strand heran, und im von Palmwedeln gebrochenen jalousieartigen Licht folgt man wahrscheinlich einem der schönsten Fahrradwege der Erde: links die im Licht des Nachmittags scharf schraffierten Felsabhänge des Te Kou und des Te Akuruna, rechts die menschenleeren Weißsandstrände, die in das türkisgrüne Lagunenwasser übergehen, und am Horizont davon abgesetzt das tiefe Blau der ozeanischen Unendlichkeit. Hinter jeder Biegung bietet die Küste neue und überraschende Anblicke: jeder ein wenig anders, als achte die Natur darauf, sich nie zu wiederholen. Im Westen wird der Lagunenkranz ein wenig schmaler. Hier, in der Umgebung des kleinen Ortes Arorangi und schon nicht mehr allzu weit entfernt von den westlichen Ausläufern Avuras, stehen die meisten Hotels, aber es gibt auch ein hinter Hecken verborgenes und ein zumeist nur wenig belegtes Gefängnis, in dessen Nähe sich auch das sogenannte „House of Parliament of the Cook Islands“ befindet. Dieses Gebäude, eine weiße Bretterbude mit Rüschengardinen an den Fenstern, in dem kein westlicher Gemeinderat amtieren

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würde, ist die Kampfarena der Democratic Party und der Cook Islands Party, die sich im politischen Tagesgeschäft heftig befehden. Entscheidendes wird allerdings bei diesen Schaukämpfen nicht behandelt, denn der Haushalt, die Handelsbilanz und die Währungsreserven, die Jahr um Jahr unter der gleichen chronischen Schwindsucht leiden, werden von der neuseeländischen Regierung großzügig ausgeglichen. An die wirklich wichtigen Ereignisse des Lebens dagegen erinnert der Black Rock, ein einsamer Felsen inmitten der nordwestlichen Lagune, von dem aus in den früheren Zeiten die Seelen der verstorbenen Cookies ihre letzte Reise angetreten haben sollen. Heute treten die Bewohner Rarotongas ihre großen Reisen eher auf dem bereits erwähnten benachbarten Flughafen an, aber das Inselkrankenhaus steht für alle Fälle in unmittelbarer Nachbarschaft des Black Rock. Hat man die Insel so problemlos umrundet, wird man auch mit der Durchquerung zu Fuß nicht zögern wollen. Westlich von Avarua beginnt der Avatiu Stream Way, der in einer halbtägigen Wanderung über den malerischsten Felsen Rarotongas, den auch als „Needle“ bezeichneten Te Rua Manga, hinweg schnurstracks zur Südküste führt. Schon während der ersten halben Stunde der Wanderung, in der der Weg durch Hibiskusfelder, vorbei an Bougainvilleen, durch Palmenhaine und tiefgrün glänzenden Mischwald führt, kann man gut verstehen, warum die Polynesier sich den Garten Eden, von denen ihnen die Missionare erzählten, nie anders vorzustellen vermochten als nach dem Bild ihrer Heimat. Mitten durch ein schattiges Tal, umgeben von hochragenden geriffelten Bergrücken, bewegt sich der Wanderer auf den Needle zu, und im Spiel der Wolken und des Sonnenlichts enthüllen die Berge im Laufe des Tages ihre verschiedenen Gesichter. Robert Louis Stevenson, der in seinen letzten Lebensjahren den Südpazifik durchkreuzte und dabei den Schwanengesang des alten Ozeaniens in seinen „Südseegeschichten“ verfasste, hat dieses Spiel beschrieben: „Morgens, wenn die Sonne direkt auf die Berge fällt, ragen sie wie eine ungeheure Wand empor, grün bis zu ihren Gipfeln und mit vereinzelten Wasserläufen, eng und schmal wie Risse im Felsen. Je weiter der Tag vorrückt, desto schräger treffen sie die Sonnenstrahlen, dann tritt die Meißelung der Kette stärker hervor. Ungeheure Schluchten versinken im Schatten, riesige gewundene Rampen springen gegen die Sonne gezeichnet empor.“

Am Ende eines solchen imposanten Tals aus wundersam geformten dicht bewachsenen Bergabhängen verliert sich der Weg im Unterholz, und eine schweißtreibende Treppe aus Naturwurzeln führt zum „Needle“, einer steil das gesamte Inselpanorama wie ein erhobener Zeigefinger prägenden Bergspitze in 413 Meter Höhe. Von einer Lichtung unterhalb des Gipfels, auf der eine wohltätige Natur zahlreiche Wurzelmulden wie natürliche Sitzgelegenheiten für erschöpfte Wanderer entstehen ließ, sieht man die Lagunen und die Brandung im Norden wie im Süden. Von hier aus erblickten die Einheimischen im Jahre 1888 das französische Expeditionsschiff am Horizont, das den Auftrag hatte, die Cook Islands zusammen mit den benachbarten Gesellschaftsinseln und den Paumutus zu einem pazifischen Kolonialreich zu verbinden. Und auch die Franzosen erkannten aus der Ferne zuerst den „Needle“ von Rarotonga, auf dem vorsorglich die Missionare den Union Jack als Zeichen englischer Souveränität gehißt hatten. So kehrten sie wieder um. Für sie gab es in den Weiten des Pazifik noch genug Inseln zu besetzen. Sie ahnten nicht, was ihnen da entgangen war. Für den Besucher Rarotongas, dessen Aufenthalt sich dem Ende nähert, ist der Blick vom Needle der perfekte Abschiedsblick: auf grün-blaue Küsten, auf Palmenwälder und gepflegte Häuser an den Flanken der dicht bewachsenen Inselberge. Und wenn die abendliche Sonne in Richtung Samoa versinkt, bildet ein jeder sich auf ganz unterschiedliche Weise sein abschließendes Bild von Rarotonga – einer Insel, gänzlich eingebettet in eine friedvolle und schöne Natur, in der man sich auf eine merkwürdige Art zu Hause fühlt, weil man sie als Sehnsucht immer schon mit sich herumgetragen hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

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