Kein Vogelkot auf den Rechten des Volkes!

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Von der bolivianischen Hauptstadt La Paz in die Yungas an den Ostrand der Anden

Dem Touristen klopft das Herz bis zum Hals, wenn er mitten auf dem Altiplano auf dem höchstgelegenen Linienverkehrsflugplatz der Erde in 4085 Meter Höhe gelandet ist.  Eigentlich weiß er nicht genau, wovor er mehr erschrecken soll, vor den eigentümlichen Anwallungen von Gleichgewichtsstörungen und Kopfschmerzen oder vor dem Ausblick durch das Flughafenfenster: eine Mondlandschaft, soweit das Auge reicht, ein Hunderte von Quadratkilometer großes Geröllfeld mit den Königskordilleren als ungeheure Maulwurfshügel an den Seiten. In der Mitte ist ein gigantisches, fünfhundert Meter tiefes, kreisrundes Loch, in dessen Mulden sich die merkwürdige Stadt La Paz seit ihrer Gründung im Jahre 1548 eingenistet hat. Von hier aus wächst sie seitdem unaufhaltsam die Ränder empor.

Tief durchatmend und langsam den einen Fuß vor den anderen setzend, nähert sich der Reisende einem jener urtümlichen Taxis, deren Grollen unter der Motorhaube schon auf die zahlreichen bolivianischen Vulkane im Süden einzustimmen scheint. La Paz ist in vieler Hinsicht eine verkehrte Welt: Während die Prominenz und die guten Hotels in Los Angeles oder in Hongkong auf der Spitze oder den Flanken der Hills und Peaks residieren, steuern die Taxen vom Flughafen über die abschüssigen Straßen immer tiefer ins urbane Golfloch hinein, bis sie die Zone des guten Lebens und der guten Hotels in der tiefsten Senke der Stadt erreichen.

Eines lernt man schnell: La Paz ist eine freundliche Stadt, die langsam ergangen werden will. Dankbar nimmt er in den ersten Tagen auf den zahlreichen Bänken Platz, die die Bürgermeister dieser höchstgelegenen Hauptstadt der Erde für die einheimischen Müßiggänger und die keuchenden Touristen gleichermaßen aufstellen ließen. Übrigens ist La Paz nicht die legitime, sondern nur die wirkliche Hauptstadt Boliviens, ein feiner Unterschied, von dessen Geschichte andere Länder, die ihre Hauptstadt neu zu bestimmen wünschen, möglicherweise manches lernen könnten. In Bolivien gab es keinen Umzugsbeschluß, und trotzdem verzogen sich die obersten Behörden des Landes seit dem Jahre 1898 klammheimlich aus der nominellen Hauptstadt Sucre nach La Paz, womit viel öffentlicher Ärger vermieden wurde, bis die Zeit, als stärkstes Argument des Althergebrachten, nach zwei Generationen plötzlich für die neue Hauptstadt sprach und niemand mehr auf die Idee verfallen konnte, rückwirkend eine Umzugsdebatte zu entzünden. Auf lateinamerikanische Verhältnisse bezogen, ähnelt La Paz ein wenig der peruanischen Hauptstadt Lima, nur mehr als dreitausend Meter höher gelegen und mit seinen anderthalb Millionen Einwohnern viel kleiner, preiswerter und sicherer.

Allerdings unterliegt La Paz durchaus den gleichen Problemen wie Lima, Quito oder Bogotá, wenn auch in kleinerem Umfang. Seit der tiefgreifenden Wirtschaftsreform der achtziger Jahre, die von den Wohlhabenden als „bolivianisches Wunder“ und von den unteren Schichten durch die Stillegung unrentabler Zinnminen als Existenzkrise erlebt wird, wandern viele ehemalige Bergwerksarbeiter nach La Paz und suchen in der Textil- und Pharmaindustrie im Umfeld der Hauptstadt nach neuen Lebensmöglichkeiten. In baufälligen und zugigen Hütten leben sie an den Rändern des riesigen Golflochs in bemitleidenswerten Verhältnissen. Wie die Bewohner der brasilianischen Favelas an den Hängen der Morros von Rio verfügen sie über einen bitteren Logenplatz für die Beobachtung der schmucken reichen Viertel tief unter ihnen.

Mitten im Zentrum dieser Stadt, auf der Plaza Murillo, können sich die zugewanderten Indios unterhalb der Freiheitsstatue von einer großen steinernen Buchtafel immerhin vorlesen lassen, welch stattliche Grundrechte sie als Boliviano besitzen. Und auch die Würde der Konstitution wird auf der Plaza Murillo streng beachtet, steht doch der ortsansässige Parkwächter den ganzen Tag mit einem Lappen neben dem steinernen Verfassungsdokument und duldet keinerlei Vogelkot auf den Rechten des Volkes.

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„Wir sind immer arm gewesen, und es hat uns nichts gefehlt“, läßt García Márquez am Ende seines Romans „Der General in seinem Labyrinth“ einen Unabhängigkeitskämpfer sagen. „Wir sind immer reich gewesen, und wir hatten nichts übrig“, antwortet Bolívar, und reitet davon. Arme, denen es zumindest auf den ersten Blick erstaunlicherweise nicht an der Lebensfreude zu mangeln scheint, und Reiche, die genauso augenfällig wenig übrig haben, treffen sich unter dem blumengeschmückten Denkmal Simón Bolívars und finden gleichermaßen ihre Freude daran, dass ein solch berühmter Mann aus Caracas das Vaterland mit seinem Namen schmückte. Dabei war es sein militärisch weit begabterer Unterführer Antonio de Sucre, der mit seinem Sieg über die Spanier im Jahre 1825 die Grundlagen für die Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 1825 erkämpfte.

Leider sind die kontinentalen Visionen der großen Caudillos schon zu ihren Lebzeiten verblasst, und tatsächlich hatte kaum ein Staat Lateinamerikas unter den Interessengegensätzen der ehemaligen spanischen Kolonien mehr zu leiden als Bolivien. Nach der Unabhängigkeit von Spanien mühsam von Peru emanzipiert, wurden die bolivianischen Truppen von den Chilenen im Salpeter-Krieg von 1878/79 mit demütigender Leichtigkeit besiegt, und das Land verlor nicht nur die salpeterreiche Atacamas-Wüste, sondern auch noch seinen Meereszugang. Das ist bis heute ein nationales Trauma, das nach der überwiegenden Meinung der bolivianischen Bevölkerung für nahezu jedes Ungemach verantwortlich gemacht werden muß, welches dem Land zugestoßen ist. Kein Wunder also, dass die Emotionen kochen, wenn alljährlich am 6. August, dem Unabhängigkeitstag, die Paraden auf der Avenida Sta. Cruz und der Avenida de 16. Julio am Bolívar-Denkmal vorüberziehen. Die Bolivianos ärgern sich nicht nur über die Chilenen, weil die nicht daran denken, ihre Kriegsbeute jemals wieder herauszugeben, sondern auch darüber, dass die chilenische Nationalmannschaft in deprimieren- der Regelmäßigkeit die bolivianischen Kicker in den Ausscheidungsspielen um die südamerikanische Fußballmeisterschaft aus dem Rennen wirft.  Zum Glück mangelt es in Bolivien abseits der nationalen Feste am notwendigen Ausmaß politischer Abenteuerlust. Franziskaner und Jesuiten haben in jahrhundertelanger Missionsarbeit das Ihre zu dem Gleichmut beigetragen, der vor einer Generation den kubanischen Revolutionsexport unter dem Befehl Ernesto „Che“ Guevaras scheitern ließ. Nicht „Revolution oder Tod“, sondern „Gläubigkeit statt Revolution“ scheint bei den meisten noch immer die Maxime zu sein, und so besucht man nach der täglichen Arbeit, nach Festen und Feiern, kurz: bevorzugt nach allen Anlässen, bei denen die Bewahrung der Sündenreinheit nicht eindeutig garantiert werden kann, die Kirchen und Klöster der Stadt, besonders die große, noch immer unvollständige Kathedrale oder die prächtigen Kirchen Sao Francisco oder Santo Domingo. Und damit keiner etwa in alkoholisierter Allgläubigkeit nicht irrtümlich Mama Oclo oder den Sonnengott Inti verehrt, sind alle Heiligendarstellungen in der Kathedrale von La Paz mit Namensschildchen versehen.

Manchmal hat der Boliviano auch Liebeskummer, dann verschwindet er hinter die Franziskanerkirche Sao Francisco und sucht auf dem Mercado de la Hecceria, dem Hexenmarkt, nach einem Betörungstrank für die möglicherweise etwas unwillige Braut. Liebesgetränke in den verschiedensten Farben, Puder für alle heiklen Zwecke, ausgetrocknete Alpaka-Föten, die man gerne beim Häuserneubau unter das Fundament als Garant des häuslichen Glücks beerdigt, vorgefertigte kleine Rauchopfer in Pappschachteln, die zu wichtigen Gelegenheiten entzündet werden – Federn, alte Nüsse, bunte Steine und eben jene verschimmelten Gewürze, die am ehesten dazu geeignet sind, auch den langweiligsten Geist aus seinem Jenseits aufzuschrecken -, werden hier zu allen Zwecken ebenso feilgeboten wie die Devotionalien der katholischen Religion.

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Noch eine Spur tiefer in die Geschichte führt der Weg in das gerühmte, wenngleich ein wenig unscheinbare Tiahuanaco-Museum inmitten der Zona Rosa von La Paz. Gleich am Eingang empfängt den Besucher ein großes Bild des weinenden Gottes von Tiahuanaco: angedeutete Tränen kullern über das Gesicht des Gottes, so, als hätte er den Untergang der indianischen Welt beklagen wollen, bevor überhaupt die Inkas oder die Spanier am geschichtlichen Horizont Altamerikas aufgetaucht waren. Gegenüber der Düsternis des vorkolumbianischen Pantheons, all der Schlangen-, Panther- und Vogelwesen, die als Quellen der Furcht und Adressaten von Menschenopfern ihre Völker einem unerbittlichen Regiment unterzogen, wirkt der weinende Gott von Tiahuanaco seltsam vermenschlicht. Und doch haben die „Tränen“, die dem Auge entströmen, nichts mit Sentimentalität zu tun: es handelt sich um die symbolische Darstellung des Regens, unter dessen Ausbleiben die Andenvölker in der Tiahuanaco-Periode besonders leiden mußten. Das erste nachchristliche Jahrtausend entfaltete sich im gebirgigen Teil Südamerikas als eine Epoche der Dürre, und diese existentielle Knappheit erzeugte einen Gott, in dessen Händen Blitz und Donner lagen und aus dessen Augen das lebensspendende Wasser auf die dürstende Erde lief. Ihn identifizierte Thor Heyerdahl anhand eines vermeintlichen Schnurrbartes als den sagenhaften Südseereisenden Vioracocha, während Erich von Däniken im weinenden Gott von Tiahuanaco die Spuren der Außerirdischen erkannte, die „lange vor unserer geschichtlichen Zeit“ einer späteren rätselfreudigen Menschheit hier ihre Spuren legten. Seine wahre Bedeutung wird sich im Kern nicht mehr erschließen lassen, und die zahlreichen Tongefäße, Keramikfigurationen und Jaguardarstellungen in den Museumsräumen bleiben stumme Zeugen einer für immer versunkenen Welt.

Wie eine Reise in eine andere Welt wirkt auch ein Ausflug von La Paz in die Yungas, den steilen schluchtartigen Abfall der östlichen Anden in die Regenwälder des östlichen Tieflandes. Wahrscheinlich gibt es nur sehr wenige Orte auf der Welt, an denen der Reisende innerhalb kürzester Zeit so viele verschiedene Vegetationsformen studieren und so viele Kleidungsstücke anziehen und wieder ablegen kann. Zunächst einmal geht es von La Paz aus noch einmal etliche Kilometer bergaufwärts – bis der Wagen am La-Cumbre-Paß in 4640 Meter Höhe eine eisgepanzerte Hochandenlandschaft mit Schneefeldern, Gletschern, Lamaherden und zugefrorenen Bergseen erreicht, hinter dem gewaltige, Tausende von Metern tiefe, wolkenverhangene Kerben zwischen den Bergriesen die Richtung in den ewigen Dschungel weisen.

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Als hätte eine göttliche Hand aus den Anden riesige Schluchten herausgekratzt, blickt der Reisende ostwärts in weißgraue Wolkenmeere, in die sich die Straßen unterhalb des Passes in endlosen Serpentinen verlieren. Der Jeep, der in diese Wolkenküche hinunterfährt, passiert elende Wellblechsiedlungen am Wegesrand, zwanzig, dreißig Hütten nebeneinander, die sich nur dadurch unterscheiden, ob ein Cola-, ein Pepsi-
oder ein Sinalco-Schild über der schmutzigen Türe angenagelt ist. Längst liegen die Wolken über uns, die Straßen teilen sich in die östliche und südliche Yunga-Route, und die Berghänge, nach der Abfahrt vom vergletscherten Paß zunächst nur kahle Canyons, sind nun mit dichtem Grün bewachsen. Immer enger und schlechter werden die Straßen, immer steiler die Schluchten, je tiefer wir in die Südlichen Yungas vorstoßen. Wie ein motorisierter Floh hoppelt unser Gefährt die teilweise glatt in den Fels geschlagenen Wege entlang, und jeder Seitenblick über die Ränder der unbefestigten Straßen in die Tiefen kann das Gruseln lehren.

Doch schon bald wandelt sich das Bild: Papayas, Mandarinenbäume, Bananenstauden und Kaffeeplantagen bestimmen die Szenerie. Die Temperatur nimmt von Minute zu Minute zu. In der Nähe des Bergortes Coripata, noch immer auf fast 2000 Meter Höhe, tauchen die ersten Koka-Felder auf der gegenüberliegenden Seite der breiter werdenden Schlucht auf, dann sehen wir ganze Bergrücken mit dem südamerikanischen Wunderkraut bepflanzt, das seinen Erzeugern einen bescheidenen Lebensstandard, den weiterverarbeitenden Händlern im bolivianischen Dschungel einen immensen Profit und Tausenden in den Metropolen des Nordens den Tod bringen wird.

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Tatsächlich ist der Ort Coripata von einer unwirklichen Beschaulichkeit, die Kinder spielen Fangen vor der Dorfkirche, die Männer halten ihren Schwatz unter der einzigen großen Palme auf der Plaza. Aus den offenen Fenstern dringen Musik und Essensgerüche über die bepflasterten Straßen, eine grüne, freundliche Kulisse, gleichermaßen nur wenige Stunden vom ewigen Eis und dem dampfenden Dschungeltiefland entfernt. Wüßte man nicht, dass sich dieser Wohlstand auch aus der Koka-Wirtschaft speist, könnte man Coripata an diesem müden Nachmittag für ein Traumbild davon halten, wie Lateinamerika einmal aussehen könnte, wenn es alle seine Probleme gemeistert hat.

Die Rückreise nach La Paz fiel in die Zeit der späten Dämmerung. Dunkelgrün leuchteten die Farben des Felsbewuchses an den Steilwänden, als sich der Jeep die Yungas wieder von 1200 Meter auf die Paßhöhe von 4600 Meter emporschraubte. Das fahle Licht des frühen Abends nahm der Natur nichts von ihrer Faszination, verlieh aber ihren sich langsam auflösenden Konturen Bedrohlichkeit. Gerade als die Dämmerung in Dunkelheit umschlug, erreichten wir die asphaltierte Hochstraße und zugleich die Wolkendecke, die Tag und Nacht wie weißer Schaum über den Yungas liegt. Bald war überhaupt nichts mehr zu sehen, der Wagen fuhr durch eine konturlose weiße Welt aus Kälte, Dunst und Wind, umgeben von klaffenden Abgründen zur Rechten. Schließlich tauchte in der Ferne der Talkessel von La Paz auf. Die Wolkendecke war durchstoßen, und wie aus hunderttausend Augen blinkten die Lichter aus dem Lebenskessel von La Paz in den nächtlichen Himmel.

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