Ein chinesisches Hawai

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Das südliche Ende der chinesischen Welt auf der großen Insel Hainan

Ohne je auf Hainan gewesen zu sein, hat doch fast jeder Chinese den berühmtesten Ort der Insel im Südchinesischen Meer schon häufig gesehen. Auf der Zwei-Yuan-Banknote, dem Gegenwert eines Teigbällchens mit Gemüsefüllung, ist das Felsen- und Strandpanorama von Tianya Haijiao abgebildet, der sogenannte Rand der Welt. Er gilt als der südlichste Punkt Chinas. Ist der konisch geformte Fels von Tianya Haijiao auch nicht besonders prägnant getroffen – das schemenhafte Panorama eines paradiesischen Südens auf dem kleinen Geldschein ist überall in China ein Guckloch des kleinen Mannes in die wunderbare Welt der Tropen.

Mag man beim Anblick der Banknote ins Träumen geraten, bei einem Besuch Hainans wird man mit Zwei-Yuan-Scheinen nicht weit kommen, denn die große Insel im Golf von Tonking ist dabei, zu einem Treffpunkt wohlhabender Chinesen aus allen Teilen Asiens zu werden. Hier gönnen sich die Erfolgsmenschen der „sozialistischen Marktwirtschaft“ rotchinesischer Prägung, aber auch immer mehr Brüder und Schwestern aus Taiwan und Singapur, Vettern und Kusinen aus Indonesien und Malaysia ihren – meist kurzen – Urlaub auf einer ostasiatischen Südseeinsel. Am Strand von Tianya Haijiao ist das Gedränge inzwischen zu allen Jahreszeiten so groß geworden, dass die mit gesunden Marktinstinkten versehene Gemeindeverwaltung eine Eintrittsgebühr von dreißig Yuan erhebt.

Dabei ist die Geschichte Hainans als Reiseziel gehobener Kreise weit über tausend Jahre alt – allerdings handelte es sich dabei in der Regel um unfreiwillige Besuche, und die erlauchten Gäste waren alles andere als angetan von ihrem neuen Aufenthaltsort. Als „Tor zur Hölle“ verfluchte der Tang-Minister Li Deyu im 8.Jahrhundert die schwüle Tropeninsel, auf die der aufrechte Beamte jahrelang vom Kaiserhof verbannt worden war. Sein Schicksal teilten später Mandarine, Dichter und Generäle, ein ganzer Who’s who ehrenwerter Gestalten der chinesischen Geschichte, die der Zorn der Herrscher an den Rand der Welt verbannte und denen es wenig nützte, dass die Nachwelt ihrer heute in zahlreichen Tempelanlagen pietätvoll gedenkt. Allerdings nehmen die zahlreichen, von der kommunistischen Partei sorgsam restaurierten Erinnerungsstätten an all die unbestechlichen Staatsdiener inzwischen einen fast subversiven Charakter an. Besonders stark war der Besucherandrang am „Tempel der fünf unbestechlichen Beamten“ im Süden Haikous beispielsweise Ende der achtziger Jahre, als der bisher größte Korruptionsskandal Südchinas die Insel Hainan erschütterte. Anderthalb Milliarden US-Dollar, von der Zentralregierung in Peking zur grundlegenden Modernisierung der Infrastruktur Hainans überwiesen, wurden von leitenden Kadern der Partei in Haikou veruntreut.

Solche Geschichten kennt in Südchina fast ein jeder, doch weil „sauberes“ und „schmutziges“ Geld, zum allgemeinen oder zum privaten Wohl verwendet, so oder so seinen Weg in die Bauwirtschaft findet, haben Abrssbirne und Bagger den einstmals beschaulichen Inselnorden massentauglich zurechtgestutzt. Der Flughafen der Inselhauptstadt Haikou, ursprünglich in sicherer Entfernung vom Stadtzentrum angelegt, wurde längst durch die aus dem Boden gestampften neuen Vororte der Millionenstadt eingekreist, und die touristische Kundschaft, die in Haikou den Inlandsmaschinen aus Sichuan, Fukien oder Shanghai entsteigt, trifft auf ein wüst expandierendes Ebenbild ihrer Heimatstädte unter südlicher Sonne.

Müssen die Touristen im Angesicht all der Karaokebars, der Nachtklubs oder Diskotheken von Haikou auf keinerlei Annehmlichkeiten des neuchinesischen Tourismus verzichten, können sie trotzdem auf der gut ausgebauten Inselautobahn in einer einzigen Stunde eine gänzlich andere Welt erreichen. Hinter Qionghai befährt der Besucher zwischen bewaldeten Bergrücken zur Rechten und dem Horizont des Südchinesischen Meeres zur Linken eine südostasiatische Traumstraße. Nicht nur Palmenwälder, Bambushütten und Wasserbüffel, auch die Menschen erinnern an Indonesien, Vietnam oder Malaysia. Denn Hainan wurde schon seit den sechziger Jahren zu Auffangbecken und Zufluchtsstätte für all jene chinesischen Minderheiten in Südostasien, die seit den fünfziger Jahren unter Diskriminierungen und Pogromen zu leiden hatten. Auf der Flucht vor den großen Massakern nach dem Sturz Sukarnos landeten in den sechziger Jahren Chinesen aus Java an den Küsten Hainans, Frustrierte und Entmutigte kamen aus Malaysia, und schließlich wurde in den siebziger Jahren die Insel zu einem Auffangbecken für die chinesischstämmigen Boat-People, die auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime von Hanoi den Golf von Tonking überquerten.

Wie eine List der Vernunft mutet es heute an, dass ausgerechnet die noch vor einer Generation bitterarme Insel im Zuge der wirtschaftlichen Reformen nach 1978 zu einer der wirtschaftlichen Sonderzonen erklärt wurde, in denen die sozialistische Marktwirtschaft ihre Premieren absolvierte. Chinesischstämmige Rückkehrer aus Indonesien, Malaysia oder Vietnam nutzten diese Chance und gründeten bei Xinglong an der Ostküste Hainans landwirtschaftliche Musterfarmen. Hier werden nicht nur Reis und Kokosnüsse, Durian und Melonen angebaut und vertrieben, sondern auch Kautschuk, Ananas oder Litschis. Wie ein Freiluftpark asiatischer Landwirtschaft wirkt ein Rundgang durch die Musterfarmen. Und auch das Getränkeangebot in Xinglong spiegelt die komplexe Kulturgeschichte der Insel wider: Den nach den Rezepten des Nordens gebrannten Reiswein kann man ebenso bestellen wie San Lan Yu Ye, den Apfelkorn der nationalen Minderheit der Li, es sei denn, man zieht es vor, eine Tasse des einheimischen Xinglong-Kaffees zu trinken. Der chinesische Kaffee ist ein Symbol privatwirtschaftlicher Ökonomie: Sein Anbau und seine Ernte sind wegen der dabei erforderlichen Akribie Privatsache, und den prestigeträchtigen Kaffeekonsum können sich ohnehin nur die wohlhabenden Schichten leisten.

Demonstrativer Konsum wird in Xinglong offen zur Schau gestellt, denn die Stadt hat sich in den letzten Jahren nicht nur zum Standort der landwirtschaftlichen Musterfarmen, sondern auch zu einem Touristenzentrum entwickelt. Der Ort ist wegen seiner zahlreichen heißen Quellen attraktiv. Sie speisen die aufwendig gestalteten Pools und versorgen die Hotels. Hier planschen Festlandchinesen und Taiwanesen, Japaner und Südkoreaner wie eine Repräsentativversammlung des gehobenen ostasiatischen Tourismus tagsüber einträchtig in den Becken. Abends vergnügen sie sich in den zahlreichen Spielhallen, Diskotheken und Bars.

Jiao Xiao Jiang, der Manager des „Kangle Garden Resorts“ in Xinglong, aber hat weitreichendere Geschäfte im Sinn: Schon heute erholen sich westliche Reisegruppen am Ende anstrengender China-Rundreisen in seinem Luxushotel. Gerade auf deutsche Urlauber setzt Jiao Xiao Jiang große Hoffnungen. In Erwartung des geplanten Charterflugservices zwischen München und Hainan, hat er bereits einen „German Biergarten“ eingerichtet.

Wesentlich beeindruckender ist für westliche Gäste im „Kangle Garden Resort“ jedoch die Begegnung mit der ostasiatischen Urlaubskultur, die weltweit auf dem Vormarsch ist. Als zivilisatorisches Symbol des konfuzianistischen Weltteils ist die geräumige Badewanne in sämtlichen Gästezimmern allgegenwärtig. Dazu gehören allzeit mit heißem Teewasser gefüllte Thermoskannen und gerne auch geöffnete Zimmertüren, durch die man nicht nur die lebhafte Konversation, sondern auch das Fernseh- und Musikprogramm im Nachbarzimmer gut mitverfolgen kann.

Wer darüber hinaus auch über die Kultur der nationalen Minderheiten mehr erfahren will, kann von Xinglong aus in einer dreistündigen Autofahrt Tongzha, die Hauptstadt der sogenannten „autonomen Präfektur der Li und Miao“ im Landesinneren besuchen. Hier werden in einem aufwendig rekonstruierten „Li Village“ Tänze und Folklore der Minderheitsvölker tagtäglich nach Kirmesmanier ins Bild gesetzt: Im „Li Village Dancing Center“ hüpfen jugendliche Trachtenträger in Turnschuhen über die Bühne, in den Shops verkaufen die Li und Miao Coca-Cola, und die verwinkelte Bambuskonstruktion des ganzen Dorfes scheint keinem anderen Zweck zu dienen, als photogene Panoramamotive zu ermöglichen. Die meisten Chinesen, die diesen Bambuskitsch zigarettenrauchend durchwandeln, werfen nur wenige Blicke auf das Ethnospektakel, teils weil sie merken, mit wie wenig Authentizität sie abgespeist werden sollen, teils auch, weil das Treiben ihrer nationalen Minoritäten die Chinesen in der Regel herzlich wenig interessiert.

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Erheblich höher in der Rangskala hainanischer Attraktionen rangiert dagegen eine Wanderung durch das knapp 1900 Meter hohe Fünf-Finger-Gebirge im Norden Tongzhas, ein Sammelsurium kaum unterscheidbarer, dichtbewachsener Berge, dessen bekanntester, der Taiping-Gipfel, als eine Miniaturausgabe des Tai Shan in der Provinz Shandong gilt. Vollkommen abseits von Bambuskitsch und Naturidylle aber vollzieht sich das wirkliche Leben der Li und Miao. Östlich des Fünf-Finger-Gebirges schlängelt sich ein holpriger Lehmpfad stundenlang durch die Berge.

Vorüber an Teeplantagen, Kaffeebüschen und Reisfeldern gelangt man nach Chen Xian Wan, einem mit Hilfe der Vereinten Nationen errichteten großen Süßwasserreservoir. Nach dessen Überquerung erreicht man das sogenannte Peace County, in dem die letzten, noch nicht vollständig sinisierten Minoritäten der Insel leben. Ein einziger Blick auf die verschlammten Hauptstraßen und die dunklen Wohnhöhlen des sogenannten Freundschaftsdorfes verscheucht jede folkloristische Romantik: Schmutz, Ruß und Armut dominieren im Inneren der Häuser, auf deren Lehmböden sich jene schlafenden, weinenden, oder spielenden Kinder tummeln, deren Überzahl die Armut der Eltern wie ein Verhängnis nach sich zieht. Immerhin existiert eine medizinische Versorgungsstation in einer Holzhütte und sogar eine Grundschule. Dort mühen sich drei überforderte chinesische Lehrer redlich, einer unübersehbaren Kinderschar in überfüllten Klassenräumen etwas beizubringen, was ihnen im heutigen China von Nutzen sein könnte.Was immer die chinesischen Offiziellen unternehmen, um den Bildungs- und Lebensstandard der Minoritäten in den Bergen zu heben, die Kultur der Li und Miao wird innerhalb der Siebenmillionenbevölkerung Hainans die nächsten hundert Jahre nur als exotische Erinnerung überleben.

Wie die Ausschnitte einer ganz anderen, lebenskräftigeren Welt wirken dagegen die Küstenpassagen zwischen Xinglong und Sanya: Bauern mit ihren pyramidenförmigen Kulihüten bei der Ernte, ganze Gänse-Kohorten, von Kindern über die Straße getrieben, quiekende Schweine in einem Karren hinter einem Fahrrad auf holprigen Straßen vor der Silhouette bizarr gezackter Berge. Über deren Spitze ballen sich dunkle Wolken immer aufs neue zusammen. Derartige Bilder reihen sich wie in einem unwirklichen Photoalbum aneinander, je weiter man nach Süden kommt. Die Bewohner des Fischerdorfs Xincun zwischen Xinglong und Sanya offerieren auf Märkten Pfeffer, Tee, Holz, Fleisch und Fisch gleich neben Plastiktöpfen, Kassettenrecordern und Gameboys. Vor einer florierenden Garküche wird je nach Andrang der Kundschaft Gänsen und Hühnern an Ort und Stelle der Hals umgedreht, ehe sie vor den Augen ihrer Artgenossen gerupft, ausgenommen und in siedendes Wasser geworfen werden.

Eine Fahrtstunde südlich von Xincum endet die Autobahn in der Stadt Sanya, dem Zentrum der touristischen Expansion Hainans. Auch wenn das bei der Einfahrt in die Halbmillionenstadt nicht unbedingt auffallen wird – es sind vornehmlich die Küstenpassagen in der Umgebung Sanyas, allen voran die Sandstrände von Dodonghai und Luhuitou, die den Ruf Hainans als chinesisches Hawaii begründeten.

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Zwar sind auf Hawaii die Berge imposanter, die Wellen für die Surfer zweifellos ergiebiger, es existieren üppigere Palmenwälder, doch für die Besucher aus Xian oder Nanjing gelten die sanft geschwungenen Buchten am Fuße dichtbewachsener Hügel mitsamt der einen oder anderen Palme als Inbegriff der Exotik. Und daß über die Uferstraßen den ganzen Tag süßliche Popmusik und in der Nacht Karaoke-Rhythmen dröhnen, dürften sie weniger als Manko denn als Zugabe werten. So boomen der Ort und seine Umgebung schon seit einem Jahrzehnt, und auch wenn manche Bauruine auf der Luhuitou-Halbinsel von msglückten Spekulationen kündet, den allgemeinen Wachstumstrend vermag die eine oder andere Pleite nicht zu knicken.

Auf dem höchsten Berg der Halbinsel thront Luhuitou, „das Tier, das sich umdreht“. Die monumentale Steinskulptur erinnert dabei vordergründig an jene idyllische Li-Legende, nach der ein Jäger eine Gazelle so lange verfolgte, bis sich das Tier nach dem Jäger umdrehte und sich dabei in eine junge Frau verwandelte. Tatsächlich spiegelt der Mythos von Luhuitou unbeabsichtigt, aber treffend das Verhältnis des modernen chinesischen Tourismus zur Natur wider, die als Arena des Reisens und der Selbsterfahrung erst vor kurzem entdeckt, dann aber um so schneller den eigenen Bedürfnissen gemäß verwandelt wurde.

Auch die Insel Hainan wurde von den Chinesen zum Freizeit- und Ferienpark umgestaltet und in die eigene Zivilisation assimiliert. Deshalb muss man sich über die Umrisse großer Tanker, die hinter den Dschunken im nördlichen Dunst zu erkennen sind, oder über die Großraumflugzeuge, die seit etwa einem Jahr den neuen Flughafen der Stadt anfliegen, ebenso wenig wundern wie über die Hochhaussilhouetten von Sanya, die die Bambusbuden und Marktstände am Fischerhafen inzwischen fast völlig überdecken. Die chinesischen Touristengruppen, die sich zu allen Tageszeiten auf dem Luhuitou-Berg versammeln, haben ohnehin keine Zeit, sich zu wundern: ein kurzer Blick auf die Gemengelage von Strandleben und ökonomischer Emsigkeit in der Bucht von Sanya genügt, dann geht es weiter zum Fototermin nach Tianya Haijiao, dem „Rand der Welt“, der er längst nicht mehr ist.image063.tif

 

 

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