Durch die Schluchten des Yangtsekiang

Zweiter Klasse auf dem großen chinesischen Strom

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Früher, als es noch Spaß machte, die größten Städte, die höchsten Berge und die längsten Flüsse der Erde in der richtigen Reihenfolge aufzusagen, gab es immer Krach, wenn die Rede auf den Yangtsekiang kam. Es war nie recht klar, ob dieser zweifellos recht lange Fluss es verdiente, in einem Atemzug mit Amazonas, Nil und Mississippi genannt zu werden. Lehrer, mit dieser Frage konfrontiert, gaben unterschiedliche Auskünfte, so dass wir anhand der großen Ströme schon früh eine beunruhigende Einsicht in die Vielfalt der Meinungen erhielten.

Dass der Yangtsekiang die Phantasien der Menschen beschäftigt, hat sich bis heute nicht geändert. Dieser längste Fluss Asiens, der seinen Weg aus den Bergen des Himalaja bis zum Pazifik nimmt, der China wie ein großer Richter in zwei deutlich verschiedene Kultursphären teilt, gleicht einem Wesen, das auf diesem Weg seine Gestalt beständig verändert. Aus dem reißenden Gebirgsstrom, der aus den Höhen tibetanischer Berge in das Becken von Szechuan stürzt, wird der überschaubare und freundliche Fluss, der den Südwesten Chinas durchströmt, und schließlich der kilometerbreite Riese, der zwischen Yichang und Shanghai die bevölkerungsreichsten Ebenen der Erde zugleich ernährt und mit seinen Überschwemmungen bedroht. Gletscher, Pandabären, Bambuswälder, Getreidefelder, heilige Berge und ein Millionenstädte gibt es an seinen Ufern reichlich zu sehen – doch inmitten all seiner  Vielfalt gilt eine Passage als die imposanteste: die Durchfahrt durch die großen Schluchten des Wu-Gebirges. Hier windet sich der junge Yangtse auf der Strecke zwischen Chongking und Yichang auf einer Strecke von Hunderten von Kilometern wie durch ein Nadelöhr. Erst in den Ebenen von Hubei und Anhui wird er wirklich zum Chang Jiang, zum Großen Fluß, wie ihn die Chinesen nennen. Die zweitägige Fahrt zwischen Chongking und Yichang auf einem der normalen Schiffe ist aber nicht nur eine Reise durch eine eindrucksvolle Landschaft, sondern sie bietet zugleich einen tiefen Einblick in den chinesischen Alltag, an dessen Ende es auch dem vernageltesten Reisenden klar geworden sein wird, was es bedeutet, ein Europäer zu sein.

Der Weg zu den Schluchten des Jangtsekiang beginnt gemeinhin in Chongking, jenem Ort, der während des dramatischen Verlaufs des japanisch-chinesischen Krieges innerhalb des Zweiten Weltkrieges zeitweise die provisorischen Hauptstadt Chinas war. In diesem schier endlosen Städtekonglomerat im Westen der chinesischen Provinz Szechuan leben heute über dreizehn Millionen Menschen, die alle einer neuen Verheißung folgen, die da lautet Veränderung und Konsum. Ganze Hügel im Umkreis der Linjiang Lu wurden bereits abgetragen, und unter den farbigen Plakaten, die ein grelles Abziehbild der Zukunft preisen, wühlen Zehntausende mit kümmerlichen Werkzeugen in der Erde. Rote blank geputzte Taxis überholen die traditionellen Lastträger, die an ihren armdicken, anderthalb Meter langen Bambusstöcken alles transportieren, was ihnen aufgetragen und bezahlt wird: Enten, Holz, Kohle, Maschinenteile, Töpfe voller Essen und bei Bedarf auch Touristen in speziellen Konstruktionen. Windschief kleben die Bretterbuden mit ihren schwarzen Ziegeldächern wie zu Pearl S. Bucks Zeiten unter der Jialing-Seilbahn. Auf den überfüllten Balkonen spielen die Kinder, die Mutter kocht den Reis in Erdlöchern, während die Männer sich in den düsteren Gassen zum Majong-Spiel treffen. Sechs Tage wird gerackert, und am siebten geht die Familie, die etwas auf sich hält, in eines der neuen Warenhäuser am Liberation Monument. Vor deren Portalen haben findige Kleinunternehmer Gebrauchtwaren gestapelt, die mittels einer chancenarmen Klassenlotterie unter das Volk gebracht werden. Und als Höhepunkt des Abends flackern auf einer riesigen Leinwand die neuesten Werbe-Videoclips aus Hongkong über den Minquang Lu.

Jeder Chinareisende weiß, dass es, ganz im Unterschied zum Ruf der Höflichkeit, die diesem Land vorauseilt, im Reich der Mitte immer schon recht ruppig zuging, und der aufkeimende Kapitalismus trägt auch in Chongking wenig dazu bei, die Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit zu verfeinern. Auch die älteste Großmutter auf einem Zebrastreifen wird von den Taxifahrern von der Fahrbahn gescheucht, und geradezu unberechenbar agiert der Chinese in jeder Warteschlange. Gänzlich unwillig, die Eigenart dieser sozialen Institution zu erkennen, liebt er es, von allen Seiten seine Zettel mit Sonderwünschen durch die schmale Schalteröffnung zu schieben. Der Tourist jedoch profitiert vom neuen Geist:   Wo man früher in Bahnhöfen und Flughäfen auf allenfalls freundliches Desinteresse traf und den Einzelreisenden angesichts Zehntausender rangelnder Chinesen die nackte Verzweiflung über unlesbare Schilder überkam, wird man heute sofort als Ressource identifiziert. Studenten mit bescheidenen Englischkenntnissen dienen sich an, erledigen die Nahkämpfe an den Schaltern, füllen die diversen Formulare aus und führen den Ortsunkundigen durch das Labyrinth der zuständigen Stempelvergeber, ist man nur bereit, eine bescheidene Menge Dollars zum Schwarzmarktkurs gegen Yüan zu tauschen. Auch auf der Suche nach dem richtigen Schiff an den endlosen Kais von Chongking sind solche Helfer zur Stelle, allerdings eher die von der rüden Sorte. Kein Einzelreisender, der sich auf eines der Schiffe zubewegt, der nicht sofort von einem Rudel Hafenkulis umgeben und unter großem Hallo zu einem Ziel geleitet wird, das er auch ohne sie finden würde. Ungeniert marschieren die finsteren Gesellen mit dem Reisenden bis zu seiner Kabine und wollen für ihre unerbetene Begleitung reichlich Bargeld sehen. Für den Touristen bergen Begegnungen dieser Art immerhin den Keim zu einer tieferen Einsicht in das Wesen der öffentlichen Ordnung im Reich der Mitte: Hier wie anderswo hat die Polizei offensichtlich Besseres zu tun, als sich um solche Lappalien zu kümmern, und nur wer bereit ist, sich im Ernstfall auch physisch zur Geltung zu bringen, darf seine Yüan behalten.

Im offiziell noch immer sozialistischen China gibt es auf den Yangtse-Fähren natürlich keine erste Klasse. Statt dessen nennt man die komfortabelste Einquartierung einfach „Zweite Klasse“, eine Unterkunft, für die der Chinese immerhin etwa 130 Yüan, das durchschnittliche Monatsgehalt eines staatlichen Angestellten, bezahlen muss. Die Hongkong-, Taiwan-oder Singapur-Chinesen, die eine Urlaubsreise durch das Land ihrer Vorväter aus dieser Kabine heraus genießen wollen, zahlen das Doppelte, und westliche Touristen erhalten ein Bett in dieser Klasse für den Gegenwert dessen, was ein Busfahrer, Grundschullehrer oder Polizist in einem halben Jahr verdient. Bei einer solchen Preisgestaltung verursacht der erste Blick in die Luxuskabinen eine gewisse Enttäuschung: Es gibt einige locker aus der Wand heraushängende Glühbirnen, zwei Betten mit durchgelegenen Matratzen, immerhin ein Waschbecken und einen Anschluss an die bordeigene Musikberieselung, den man sofort außer Kraft setzen sollte.

Allerdings weicht die Enttäuschung schnell der Erleichterung, wenn man bei einem ersten vorsichtigen Rundgang durch das Schiff einen Blick in die anderen Klassen riskiert. In der dritten Klasse, die ja eigentlich die zweite ist, liegen einander fremde Männer, Frauen und Kinder in Achterzimmern eng beieinander, die Räume sind nicht abschließbar, dafür aber von außen gut einzusehen, und aus einem scheppernden Lautsprecher plärrt die einheimische Folklore von sechs Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht. Natürlich gibt es auch keinen Teppich, was in China fast als Aufforderung verstanden werden muss, ohne schlechtes Gewissen herzhaft auf den Boden zu spucken.

Aber auf der Leiter des menschlichen Reisens geht es noch beträchtliche Grade abwärts, und dies im wörtlichen Sinne: Unter Deck befindet sich die sogenannte vierte Klasse, die ja eigentlich die dritte ist: ein düsterer Flur in der Nähe des Maschinenraumes, mit Eisengitterkäfigen, in denen je vierundzwanzig Holzpritschen stehen, auf denen manchmal eine ganze Familie hockt und ängstlich diesen letzten Rest territorialer Exklusivität vor denen verteidigt, die als Unterdeck-Passagiere der letzten Klasse einfach überall auf dem Boden herumliegen und sich nichts sehnlicher wünschen, als dass diese Fahrt so schnell wie möglich vorübergehe. Denn die meisten Chinesen, die unaufschiebbare persönliche Angelegenheiten auf diesen Dampfer treiben, erleben das Reisen als Plage, und die neugierigen Besuche aus den oberen Klassen als entwürdigende Enthüllungen der eigenen Not. In Dunkelheit, Krach und schlechter Luft dämmern sie dahin, und die Begeisterung der Privilegierten für die anstehenden Naturereignisse ist für sie wie ein unanständiges Vergnügen aus einer anderen Welt.

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Am ersten Tag der Reise gibt es wenig zu sehen, abgesehen davon, dass man in den sintflutartigen Wolkenbrüchen ohnehin nur Umrisse der Ufer erkennen kann. Wenn sich in den wenigen Regenpausen der nasse Nebel über dem Yangtse verzieht, werden Industrieanlagen an den Ufern sichtbar, Lastkähne, die flussaufwärts dümpeln, und die typischen Geröll- und Schuttaufschüttungen unterhalb der Siedlungen. Fuling, Zhongxian, Yinwang und Quian Jinggou: gesichtslos ziehen Betonstädte, Felsen und Aussichtspunkte am Schiff vorüber, gelbgrau kräuselt sich die Wasseroberfläche des Yangtse vor dem Bug des Schiffes, das mit trompetenartigen Warnsignalen durch die diffuse Nässe kreuzt.

Als ein Gleichnis des Lebens und der Schwermut ist der Yangtse seit jeher ein Thema der chinesischen Dichtung gewesen. Li Bai und Du Fu, die beiden bedeutendsten chinesischen Lyriker der Tang-Zeit, fuhren den Fluss mit bangem Herzen stromaufwärts, und ihr jüngerer Zeitgenosse Bo Djü beklagt die Melancholie des großen Wassers: „Wenn sprühend und rieselnd durchfeuchtet der Regen die Kleider/ und hastig dahinsegeln die Wolken, so wird doch der Fischer nicht trunken/ vom Wein aus Yichang,/ weil im dichten Nebel der Wogen/ die Wehmut fast erschlägt jeden Mann.“

Gegen die Melancholie des Reisepanoramas wird wenigstens im Speisesaal der zweiten Klasse mit hellen Tischdecken angegangen, und dankbar nimmt man zweimal am Tag die Tasse Pulver-Kaffee entgegen, die die Stewards als besonderen Service den Gästen der obersten Klasse offerieren. Immerhin gibt man sich weltläufig, erklingt doch jeweils zur Kaffeestunde eine leicht chinesisch verzerrte Variation von Johann Strauß  „An der schönen blauen Donau“.  Zweimal am Tag versammeln man sich in den obersten Klassen um die Szechuan-Töpfe, eine Art Allgemein-Fondue, bei dem man Gemüsestangen, Fischteile, Knochen mit Fleischresten, Hühnerdärme, Spargelstangen und andere Köstlichkeiten in eine braune, kochende Tunke wirft, um dann zusammen mit den anderen Tischgenossen aus dieser Brühe nach einiger Zeit etwas herauszufischen, was möglicherweise der Nachbar hineingeworfen hat.

Am Nachmittag wird die Szenerie noch düsterer. Wie durch eine gigantische Röhre pfeift der Wind zwischen den sich langsam an den beiden Ufern auftürmenden Bergen dem Schiff entgegen. Jeder, der ein warmes Bett hat, legt sich hinein, flüchtet sich hinter eine Tasse Tee oder träumt von Idyllen beim Betrachten chinesischer Rollbilder. In Zhongxian ist die Silhouette der Stadt durch den dichten Regenschleier nur zu ahnen. Die Menschen, die in langen Schlangen dem Schiff zustreben, werden samt den großen Ballen aus Gepäck und Lebensmittelvorräten sofort unter Deck verfrachtet.

Im trüben Licht des frühen Abends wird auf einem Felsengipfel der Shi Bao Zhai, der Steinschatzfelsen, sichtbar, ein kleines buddhistisches Tempelgebäude aus der Mandschu-Zeit in der Nähe einer wundersamen Felsöffnung, aus der der Sage nach tagtäglich herabrieselnde Reiskörner den Mönchen so lange ein karges Leben erlaubten, bis sie, gierig geworden, das Loch künstlich vergrößerten, worauf die Nahrungszufuhr gänzlich versiegte. Das hätten die Mönche natürlich vorher wissen können, denn Sagt nicht Meister Lao-Tse: „Nichtstun ist besser als das Flasche tun!“

Dieser Weltanschauung, nach der das Nichtstun dem aktiven Handeln vorzuziehen sei, scheinen auch die Stewards zu frönen, denn obwohl sich Dutzende von ihnen auf dem Schiff befinden, haben sie längst vor den Abfallhaufen, defekten Wasserleitungen oder überlasteten sanitären Anlagen kapituliert. Dafür haben inzwischen auch die Unterdeckpassagiere mit ihrem Aufstieg aus der Unterwelt begonnen. Mit sturer Beharrlichkeit drängen sie heraus aus ihrem Orkus und okkupieren Treppen, Gänge, Türöffnungen, so dass ein abendlicher Gang durch das Schiff einem Slalom durch schlafende, erschöpfte, ineinander verknäuelte Menschenleiber gleicht, die nur der eine Wunsch beseelt, die Nacht in der Nähe der frischen Luft zu verbringen. „China hat mich kuriert, ich will nie mehr reisen“, schrieb sogar die hartgesottene Hemingway-Gattin Martha Gellhorn in ihren Reisetagebüchern. Und weiter: „Das wirkliche Leben in Asien zu beobachten ist schlimm genug, daran teilzunehmen ein einziger Schrecken.“

Erst in der Morgendämmerung des zweiten Tages fährt der Dampfer in die erste der drei Yangtse-Schluchten ein. Der abrupte Wechsel von flachen Uferlandschaften zur steil aufragenden Bergkette dunstiger Riesen, in die ein schmaler Wassersaum mitten hineinzuführen scheint, wird von den meisten Passagieren überhaupt nicht wahrgenommen. Nur die Fahrgäste der oberen Klasse werden vom Bordservice geweckt und befinden sich schon inmitten der ersten Schlucht, als sie mit schlaftrunkenen Augen ihre Kabinen verlassen. Die nur acht Kilometer lange Qutang-Schlucht bildet den engsten Yangtse-Durchbruch. Bis auf etwa hundert Meter rücken die Gesteinsmassen auf beiden Seiten des Ufers heran, beängstigende Muskelpakete, die sich in einer Höhe von eintausend Metern fast zu berühren scheinen. Bedrohlich gurgelt die zusammen gepreßte und schäumend dahinschießende Flut, und im Dunst des Morgennebels ziehen kantige Felsausläufer in beklemmender Nähe vorüber.

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Nach der Qutang-Schlucht legt das Schiff meist kurz in der Stadt Wushan an, entlässt und lädt einheimische Passagiere, um dann, gleich hinter der Stadt, in den zweiten großen Yangtse-Durchbruch einzufahren. Auf einer Distanz von vierzig Kilometern erscheint die Wuxia-Schlucht wie ein gigantisches Guilin, mit wunderlich geformten und gut unterscheidbaren Bergformationen, die die Chinesen seit alters mit individuellen Namen belegt haben und deren Gestalten mit zahlreichen Legenden ausgeschmückt wurden. Der schönste und der höchste dieser Gipfel, der Shennü Feng (Feenberg), besitzt sogar einen prominenten Platz in der chinesischen Ursprungsmythologie: Er gilt als die steingewordene Erinnerung an Prinzessin Yao Ji, die in den Zeiten, als die Götter die Menschen noch des öfteren besuchten, von den Sternen herniederstieg, um dem Urkaiser Yu dabei zu helfen, die Naturgewalten zu zähmen.

Die Reaktionen der Menschen aus unterschiedlichen Kulturräumen und sind höchst unterschiedlich. Die Fahrgäste aus den unteren Klassen nehmen von den Naturschönheiten keine Notiz und hüten sich, sich  von ihren kleinen und mühsam erkämpften Lagerplätzen in der Nähe von Fenstern und Türen fort zu bewegen. Die wohlhabenderen Chinesen auf der Aussichtsplattform dagegen stellen sich vor der Kulisse jauchzend für Gruppen- und Einzelfotos in Positur. In sich gekehrt sitzen die wenigen Europäer schweigend am Bug und erleben sich in einer großen Gemütsaufwallung als winzigen Teil der Schöpfung.

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Das Schiff hat nun bereits die Wuxia-Schlucht verlassen, die Industriestadt Badong passiert und erreicht mit der Einmündung des Xiangxi, der seinen Namen „Duftender Fluß“ wenig Ehre macht, die längste und letzte der drei Schluchten. Die Xiling-Schlucht, früher mit ihren zahlreichen Stromschnellen der Schrecken jeder Yangtse-Fahrt, ist heute nach den zahlreichen Sprengungen und Flusserweiterungen eine eher idyllische Strecke, die eigentlich aus mehreren kleineren Schluchten besteht. Zusammen sind sie etwa acht Kilometer lang.

Die Uferlandschaften werden flacher, die Abhänge grünen, und an manchen Stellen gleichen die Berge schroff gezackten Südseefelsen, nur dass an ihren Flanken anstelle der Palmen die schwarzen Ziegelhäuser kleiner Fischerdörfer zu sehen sind. Hier und da erkennt man auch noch die uralten Treidelpfade, auf denen jahrhundertelang Kulis an langen Seilen Frachtschiffe stromaufwärts ziehen mussten, eine menschenunwürdige und gefährliche Plackerei, der alltäglich viele durch Erschöpfung oder durch Unfälle zum Opfer fielen. A. E. Johann, der noch in den dreißiger Jahren während des japanisch-chinesischen Krieges den Yangtse auf einem englischen Dampfer stromaufwärts fuhr, um die damalige provisorische Hauptstadt Chongking zu erreichen, beschreibt ein solches Drama: „Das Seil, an welchem die Dschunke vom Treidelpfad aus stromaufwärts gezogen wurde, hing kaum durch, war straff gespannt. Ich erkannte auch mit bloßem Auge die Figürchen der Kulis, die in der Höhe das Lastboot stromauf schleppten. Die Männer lehnten sich beinahe waagerecht in den Sielen, wahrscheinlich hatte der Dschunkenmeister am Treidelgeld gespart, und die armen Teufel hatten im Angesicht des allgemeinen Elends trotzdem zugreifen müssen.“ Plötzlich, so schreibt er weiter, lief das Lastschiff durch eine Unachtsamkeit ebenjenes Dschunkenmeisters auf eine Stromschnelle: „Der Ruck im Treidelseil muss fürchterlich gewesen sein. Vielleicht hatten die Kulis in der Höhe gerade eine besonders schmale Stelle des Pfades zu passieren. Sie hingen in den Sielen und wurden plötzlich hart zurückgerissen. Vielleicht taumelte nur der hinterste nach links zur Seite, trat über die Kante und hing plötzlich in den Sielen frei über dem Abgrund. Und schon folgten ihm mit sinnlos schlagenden Gliedmaßen, alle noch am Seil, die restlichen Kulis und segelten in die Tiefe, verschwanden hundert Meter vor meinen Augen in der jagenden, strudelnden Flut.“

Bis zu den großen Sprengungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fuhr der Tod immer mit. Stromaufwärts und stromabwärts stürzten Treidler in die Tiefe, kenterten oder zerschellten die Dschunken an Stromschnellen und Klippen. Heute fährt man über die abgesprengte Qing-Tan-Klippe einfach hinweg, doch unter den Booten liegt ein Schiffsfriedhof aus Jahrhunderten.

Schließlich öffnet sich die Landschaft. Das Schiff passiert wellige Buckelberge mit kleinen Gehöften am Ufer, Pavillons und Tempel auf den bescheidenen Gipfeln und erreicht am Nachmittag die große Industriestadt Yichang, den westlichsten Punkt, den die Japaner im Zweiten Weltkrieg bei ihren Eroberungen erreichten, bis ihr Vormarsch an den Gebirgen zwischen Hubei und Szechuan und den Yangtse-Schluchten zum Stehen kam. Wo früher ihre Bomber aufstiegen, um, dem glitzernden Band des Yangtse folgend, die letzte Hauptstadt des freien China in Chongking zu bombardieren, mündet der Fluß heute in den gigantischen Stausee des Wasserkraftwerkes Gezhoura, das mit einem Becken von über zwei Kilometer Länge und einem fast fünfzig Meter hohen Damm einen großen Teil der Provinz Hubei mit Strom versorgt. Reichlich abrupt bricht die hässliche Außenansicht derartiger Industrieprojekte über die Reisenden herein. Wo nahezu drei Tage lang die Fähre wie ein kleiner Zwerg an einem Saum absonderlich geformter Berge entlangdümpelte, fährt sie nun einem Horizont von Hochspannungsleitungen und Strommasten entgegen.

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