Der Äquator liegt nicht an seinem Denkmal

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In Quito und Umgebung unterwegs

Es gibt durchaus Stätten, die nicht eben hübsch sind, deren Wertigkeit aber durch ein markantes Wahrzeichen gewinnt. Das What Pra Keo in Bangkok oder das India Gate am Hafen von Bombay – sie bleiben dem Reisenden im Gedächtnis und überdecken die Erinnerung an Müllhalden, Slumsiedlungen und Verkehrschaos. Um so merkwürdiger erscheint es, daß sich eine so reizvolle Stadt wie Quito freiwillig durch ihr Wahrzeichen auf einem der höchsten Hügel über der Stadt verunziert. Eine weit über zwanzig Meter hohe, extrem unansehnliche Stahlskulptur, nach einem pejorativen Bonmot der Einheimischen die kranke Schwester des Heiligen Georg, der somit auch familienbedingt große Flügel aus dem Rücken wachsen, steht in ungelenker Haltung auf einem kläglich dreinblickenden und lang hingestreckten Reptil. Einen Sternenkranz über dem Haupt, an der segnenden Hand zugleich die Kette für den bezwungenen Drachen, mit der anderen Hand die völlig verrutschte Toga richtend, die Flügel wie zum Durchstarten ausgefahren, vermittelt die Figur ein kaum überbietbares Gefühl ästhetischer Unstimmigkeit. Die sogenannte Jungfrau mit dem Drachen, die nach der Offenbarung des Johannes, im Kapitel 12, kurz vor dem Ende der Zeiten den satanischen Drachen erlegt, ist zu einer ungefügen apokalyptischen Karikatur verkommen, der die Besucher der Stadt aus der Entfernung zunächst Erstaunen und aus der Nähe Kopfschütteln entgegenbringen. Optimisten freilich sprechen dieser endzeitlichen Vision einen utopischen Bezug zur Lebenswirklichkeit der Stadt zu: Wenn der Einbruch der Apokalypse im Hochland von Ecuador noch etwas auf sich warten läßt, will man den Sieg der starken Jungfrau über den Drachen als Verheißung begreifen, als Sieg über die Armut, die Kriminalität oder die Korruption, als Niederwerfung der radikalen Rechten oder der extremistischen Linken – je nach politischem Standort.
Der erste dieser Wünsche ist zweifellos noch nicht erfüllt. Von einem Besuch der Jungfrau nach Sonnenuntergang kann nur abgeraten werden, denn rund um den Panecillo-Hügel befindet sich inmitten verwahrloster Barriadas eines der unsichersten Gebiete der Stadt. Bei Tageslicht aber erschließt sich vom Hügelplateau ein erster, orientierender Rundblick auf das Tal von Quito, ein Hunderte von Quadratkilometern großes Terrain mit unebener Topographie, zahlreichen Schluchten und der markanten Begrenzung durch den 4776 Meter hohen Vulkan Pichincha, in dessen unmittelbarer Umgebung der Äquator verläuft. Das demographische Wachstum der jüngsten Generationen hat zur Zersiedelung der gesamten Hochebene geführt. Wo früher die durch drei Abstürze auf natürliche Weise geschützte Altstadt von Quito das Tal beherrschte, ist längst eine größere Neustadt hinzugewachsen, und beide Stadtteile werden zunehmend von den ärmlichen Behausungen zuwandernder Indios eingekreist.
Die ersten Spuren menschlicher Besiedlung reichen in die vorspanische Zeit zurück. Nach den legendenartig ausgeschmückten Aufzeichnungen Pater Juan de Velasces‘ sollen die Könige von Quitu bereits seit Jahrhunderten am Pichincha geherrscht haben, als das südliche Inkareich am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in seiner letzten Expansionsphase mit schrecklichen Gemetzeln das gesamte heutige Ecuador eroberte. Der Großinka Huayna Capac zeugte mit einer einheimischen Prinzessin den letzten Inka, den unglücklichen Athahualpa, der allerdings zunächst insofern vom Glück begünstigt schien, als er nach dem Tode seines Vaters den Halbbruder Huascar im unvermeidlichen Bürgerkrieg besiegen und den gesamten Anhang seines Halbbruders in einem weiteren denkwürdigen Massaker ausrotten konnte. Das indianische Quitu war neben Cusco schon lange zur zweiten Hauptstadt des Inkareiches geworden, als in Gestalt des estremadurischen Konquistadoren Franzisco Pizarro der nächste Kriegsherr 1532 die Ostküsten des südamerikanischen Kontinents erreichte, von wo er in einem einzigen Siegeszug voller Mord, Tücke und Verwüstung das Reich der Inka vom Stadium der höchsten Blüte in den Abgrund stürzte.
Im Schatten dieser weltgeschichtlichen Umwälzungen betrat mit dem Leutnant Sebastiano de Benalcazar auch der eigentliche Gründer des spanischen Quito eine Seitenbühne der Weltgeschichte. Ihm gelang es nicht nur, im Auftrag Pizarros weitere goldgierige Konquistadoren aus dem Norden abzuwimmeln, sondern auch die einheimischen Indianer gegen die Fremdherrschaft der Inkas so aufzuwiegeln, daß er mit ihrer Hilfe die Inka-Garnisonen von Quitu einnehmen und zerstören konnte. Auf einer abschüssigen Ebene, die gleichwohl fast völlig durch natürliche Schluchten gegen überraschende Angriffe geschützt war, errichtete Benalcazar im Dezember 1534, etwa zur gleichen Zeit, in der Pizarro sein grausiges Regiment in Cusco begründete, das kolonialspanische Quito.
Im Unterschied zu den peruanischen Altertümern ist vom vorspanischen Quitu nahezu nichts erhalten geblieben. Lediglich in der Nähe des Panecillo-Hügels und im nördlichen Rumicucho sind kümmerliche Überreste zu besichtigen, kniehohe Steinmauern, winzige Behausungsreste, bucklige Plattformen und holprige Treppen, authentische Zeugnisse einer wenig entwickelten Primitivkultur, die dem Inkareich erlag. An die Gründung des spanischen Quito erinnert die Casa Benalcazar im Norden der heutigen Altstadt. Klein und unscheinbar ist das Gebäude, in dessen Patio anschaulich gestaltete Modelle und Karten eine Vorstellung von der spanischen Landnahme in der Neuen Welt vermitteln. Alte Pläne von Montevideo, Lima, Callão, Guayaquil und Valpara´iso zeigen das städtebauliche Grundmuster spanischer Kolonialgründungen: eine schachbrettartige Anlage des Straßennetzes, das auf die plaza major mit Kathedrale und Magistrat zugeordnet ist und der man trotz der unebenen Lage auch bei der Gründung Quitos folgte. Leider ist das weitere Schicksal des Stadtgründers in der Casa de Benalcazar nicht dokumentiert. Sebastiano de Benalcazar hielt es nämlich nicht lange in Quito. Wie alle Konquistadoren seiner Generation folgte er dem Lockruf des Goldes und zog mit seinen Spießgesellen auf der Suche nach dem sagenhaften El Dorado so lange durch das nördliche Kolumbien, bis er zwar kein Gold, aber zwei nicht minder erfolglose spanische Expeditionen traf und mit diesen zusammen 1538 an der Gründung Bogotás teilnahm.
Auch den ersten Gouverneur Quitos, Gonzalo Pizarro, den sein mächtiger Bruder von Cusco aus zum Statthalter bestimmte, lockte die Kunde von märchenhaften Schätzen, diesmal nicht nach Norden, sondern nach Osten in die dampfenden Dschungel Amazoniens, wo er weniger auf Gold als auf Anopheles-Mücken, Giftschlangen und unüberwindliche Flußläufe traf. Gonzalo Pizarro mußte seine erfolglose Expedition später mit dem Leben bezahlen. Ruhm dagegen errang sein Unterführer Francisco de Orellana, der sich halb unfreiwillig, halb neugierig vom Haupttroß getrennt hatte und mit wenigen Gefährten in einer 243 Tage währenden Floßfahrt auf einem schier endlosen Fluß 1542 den Atlantik erreichte. Zur Erinnerung an die wilden und kampfeslustigen Weiber, die immer wieder seine Flöße angegriffen haben sollen, gab der unfreiwillige Entdecker aus Quito dem Strom den Namen Amazonas. Im ersten Stock des Präsidentenpalastes von Quito kann der Besucher unserer Tage diese beachtliche Episode anhand eines Monumentalgemäldes nachempfinden. Die linke Seite des dreigeteilten Bildes wird von einem hoffnungsfrohen Orellana in voller Rüstung beherrscht, der seinen zaudernden Gefährten die Richtung weist. Es folgt ein geradezu kubistisch anmutender Mittelteil in grellen Farb- und Formblöcken: sich aufbäumende Pferde, finster dreinblickende Indios mit toten Spaniern zu ihren Füßen, sich anpirschende Eingeborene und ein aufmerksamer Orellana bestimmen die Szene. Der rechte Bildteil zeigt die Expedition am Ziel: Orellana leistet auf den Knien das Dankgebet.
Für Benalcazar, Gonzalo Pizarro und Orellana war das gerade gegründete Quito nur die Durchgangsstation zu höheren Zielen, wirkliche Wurzeln schlug der Hispanismus im Hochland von Ecuador erst durch die Aktivitäten der großen christlichen Mönchsorden. Wie in ganz Lateinamerika waren es auch hier die Franziskaner, Dominikaner, Mercedarier und Jesuiten, die in jahrhundertelanger Volkszuwendung die Indios wirklich für das katholische Christentum gewannen. Der Franziskanermönch Jodoico Ricke, dessen steinernes Denkmal heute vor der großen Franziskanerkirche von Quito Händler, Touristen, Polizisten, Bettler und Schuhputzer mit der gleichen milden Geste der Vergebung durch den Tag geleitet, legte mit seinen Glaubensbrüdern bereits 1535 den Grundstein zum Franziskanerkloster, in dessen Mauern die Indios die Grundzüge der christlichen Lehre ebenso lernten wie elementare Maltechniken, deren Ausbreitung später zur Gründung der naiv-naturalistischen „Schule von Quito“ führte. Auch heute noch ist die Klosterkirche von St. Francisco zu jedem Andachtstermin überfüllt. Im Angesicht der prachtvollen Ausstattung verschlägt es jedem Besucher den Atem: eine barocke Goldhalle mit gewaltigen Seiten- und Hauptbalustraden, Säulen und Emporen lenkt den Blick zu einer weiteren Variante jenes drachentötenden Engelsweibes aus der Johannes-Offenbarung, für dessen Darstellung die Quitenser eine ganz offensichtliche Vorliebe hegen und dessen vergoldetes Urbild hier als ein Werk Bernardo Legardas zu bewundern ist. Das Gold an den Wänden, der Schmutz auf dem Boden, das Ornat der Priester und die junge Mutter, die neben einem Kapelleneingang ihr Kleines stillt, der machtvolle Kirchengesang und der mit Palmen und Bougainvilleen bewachsene Kreuzgang schaffen die facettenreiche Gesamtstimmung eines sinnlichen lateinamerikanischen Katholizismus, dem es scheinbar mühelos gelingt, die Legitimation der Mächtigen und die Hoffnungen der Armen zur Deckung zu bringen.
Auch die Kirche des Klosters von St. Domingo schlägt eine Brücke zwischen den Zeiten. Vor dem Portal des Gotteshauses, das ein blindes urbanes Geschick in die Nähe des städtischen Busbahnhofes hat geraten lassen, rattert ein gnadenloser Verkehr vorüber, jeder längere Aufenthalt auf diesem Platz gefährdet die Gesundheit von Bronchien und Lungen. Die Taschendiebe und die Rucksackschlitzer umkreisen die Touristen wie Haie die Schiffbrüchigen, die Polizei läßt sich in diesem üblen Teil der Stadt selten sehen. Tritt man aber über die Schwelle der Kirche, wird es schlagartig ruhig: San Domenico blickt auf seine Gemeinde herab, barfüßige Bettler mit ausgefransten Hosen, würdige Matronas, denen der flackernde Kerzenschein die tiefen Lebensfurchen in ihren Gesichtern ausleuchtet, bitter dreinblickende Jugendliche in zerschlissenen Lederjacken, junge Familienväter und alte Männer, sie alle drängen sich in diese Halle der Hoffnung und suchen die Nähe ihrer bevorzugten Heiligen. San Judas Tadeo, der Helfer der Verzweifelten, erfährt den größten Zustrom. Ein Wald von Kerzen brennt unter seinem Bildnis, und links und rechts des Altars ist die gesamte Wandfläche mit blauen, roten, gelben Blechschildern verkleistert, auf denen die ehemals Verzweifelten dem heiligen Tadeo in krakeligen Schriftzügen für die Errettung aus Krankheit, Hunger und Einsamkeit danken.
Ende des sechzehnten Jahrhunderts kamen die Jesuiten bei ihrer Missionierung der Welt auch nach Quito. Die Ordenskirche „La Campania“ erinnert an das Wirken der Gesellschaft Jesu, die in Südamerika die im Laufe der Zeit etwas behäbig gewordenen Franziskaner ablösten. Wieder befremdet das Nebeneinander dieser Sinfonie aus Gold und Silber im dunklen Innenschiff der Kirche mit der Ärmlichkeit der Andächtigen, sie schleichen sich an Monstranzen und Kapellengittern vorbei und ducken sich unter einem großen religiösen Lehrgemälde von Hernando de la Cruz gleich hinter dem Kircheneingang: Luzifer im Mittelpunkt der Hölle blickt auf die büßenden Sünder, die ihn umgeben, Geile, Eitle, Tänzer, Gourmets und Klatschmäuler werden aufgespießt, gebraten und von allerlei Gezücht geplagt. Kaum zu glauben für ein jesuitisches Gemüt jener Tage, daß die meisten der hier abgebildeten Untugenden einer späteren liberaleren Gesellschaft als legitime Mittel der Selbstverwirklichung gelten werden.
Über die Rechtgläubigkeit des kolonialspanischen Quitensers wachte die aufmerksame Obrigkeit, und jedweder Kontakt zur Außenwelt bedurfte der ausdrücklichen vizeköniglichen Genehmigung aus Lima. Es war daher ein seltenes und wissenschaftsgeschichtlich bemerkenswertes Ereignis, als im Jahre 1735 eine französische Forschungsexpedition unter der Leitung von Charles Marie de la Condamine im Hochland von Quito nach dem exakten Verlauf des Äquators forschen durfte. Wer will es dem Grafen verdenken, daß er sich mit den bescheidenen Instrumentarien seiner Zeit um einige Kilometer verrechnete und seitdem Millionen Besucher eine dicke Bodenkerbe am Äquatordenkmal, etwa fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Quito, entlangschlendern und sich ganz unberechtigt an dem kuriosen Glauben laben, gleichzeitig zwischen den beiden Hälften der Erdkugel hin und her zu pendeln. Die moderne geodätische Widerlegung der alten Messung hat jedoch der Attraktion des „klassischen“ Mitad del Mundo in keiner Weise Abbruch getan, seine touristisch komplett vermarktete Umgebung mit den unvermeidlichen Andenkenläden, Cafés und Boutiquen dokumentiert nur, daß hinsichtlich der Konsumorientierung auch zwischen einer etwas ungenau vermessenen nördlichen und südlichen Erdhalbkugel keine wesentlichen Unterschiede mehr bestehen. Das vorwiegend einheimische Publikum, das an dieser Stelle dankbar die weltweite Bedeutung des Vaterlandes genießt, hat seine Freude am historisch-ökonomischen Ambiente, wandelt gern und langsam die Büstengalerie der Expeditionsteilnehmer von 1735 entlang, um dann unterhalb einer symbolisch geteilten Erdkugel das klassische Erinnerungsfoto zu sichern. Der wirkliche Äquator, der dem Land ja immerhin seinen Namen gegeben hat, wurde bei der Nachmessung im Jahre 1949 einige Kilometer weiter nördlich fixiert. Wenig beachtet und mit einem recht bescheidenen Globus geziert, bietet er einen weiteren Beleg für die Erfahrung, daß die geschichtliche Tradition jederzeit gegen die naturwissenschaftliche Richtigkeit obsiegen kann.
Der nächste bedeutende Besucher Quitos erreichte die Stadt bereits im Vorfeld tiefgreifender politischer Veränderungen auf dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent. Als der junge Alexander von Humboldt am 6. Januar 1802, von Ibarra kommend, in Quito einritt, zählte die Stadt schon 35 000 Einwohner, deren bildungsbeflissene Oberschicht den jungen deutschen Gelehrten als Künder eines lichteren europäischen Geistes begrüßte. Schon lange forderten die weißhäutigen Kreolen Quitos und Guayaquils nicht anders als die großen Familien in Lima, Bogotá und Buenos Aires mehr politische und wirtschaftliche Mitbestimmung vom spanischen Mutterland. Die wohlhabenden Gastgeber des deutschen Naturforschers, die nichts dabei fanden, ihre leibeigenen Indios notfalls an die Webstühle ketten zu lassen, stießen mit ihren Klagen über Unfreiheit und Ungerechtigkeit bei Alexander von Humboldt auf ein offenes Ohr, während sich die junge Herzogin von Selva-Alegre über den Gast allerdings ein wenig wundert: „Bei Tisch verweilte er nie länger als notwendig war, um den Damen Artigkeiten zu sagen und seinen Appetit zu stillen. Sodann aber verschwand er nach draußen, schaute jeden Stein an und sammelte Kräuter.“ Etwas Ärger gab es auch, als Humboldt im Mai 1802 im zweiten Anlauf den Pichincha bestieg und gerade in dem Augenblick, als der Forscher einen begierigen Blick in den Kraterschlund riskierte, der Vulkan insgesamt durch fünfzehn heftige Erdstöße erschüttert wurde, übrigens eine Zahl, deren Genauigkeit wir Humboldt selbst verdanken, der während der Eruptionen nicht in Panik verfiel, sondern in vorbildlicher empirischer Arbeitshaltung die Anzahl der Stöße mitzählte. Die abergläubischen Quitenser aber schrieben dieses Beben einem teuflischen Pulver zu, mit dem der „Ketzer“ den friedlichen Vulkan gereizt habe, und möglicherweise hat nur die Guardia der von Humboldt so ausführlich kritisierten Kolonialverwaltung den Forscher und seine allseits mißtrauisch beäugten Instrumente vor dem Volkszorn gerettet.
Aus dieser undurchsichtigen Melange von kreolischem Fortschrittsglauben, Geschäftsgeist, Mystizismus und schnell entflammbarem Volksgemüt heraus erscholl schon wenige Jahre nach Humboldts Abreise in Quito wie in anderen Metropolen des spanischen Kolonialreiches der „Grito de la Independencia“, der Beginn lang anhaltender revolutionärer Wirren, in deren Verlauf schließlich der gesamte latein
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amerikanische Kontinent die Unabhängigkeit errang. Eine der entscheidenden Schlachten dieser jahrzehntelangen Kämpfe entschied sich 1822 am Fuße des Pichincha: Hier schlugen die kreolischen Truppen unter der Führung des jungen Generals Antonio de Sucre die letzten spanischen Truppen in der Umgebung von Quito, und das gesamte heutige Ecuador wurde zusammen mit Kolumbien und Venezuela dem neu entstehenden Groß-Kolumbien unter der Führung Simon Bolivars eingegliedert.
Der junge Antonio de Sucre, neben Bolivar und San Martin die bedeutendste Figur der lateinamerikanischen Befreiungskriege, durchmaß sein Leben wie ein Komet über dem geschichtlichen Horizont der Anden. Als Mittzwanziger bereits mit den höchsten militärischen Kommandos ausgestattet, wandte er sich nach dem Sieg am Pichincha nach Süden, wo die Spanier 1824 in der Entscheidungsschlacht bei Ayacucho ihr Kolonialreich endgültig verloren. An den Aufenthalt Sucres in Quito zwischen 1826 und 1828 erinnert heute die Casa Sucre im Zentrum der Altstadt, ein luftiges, einstöckiges Haus mit einem begrünten Patio, in dessen Mitte ein kleiner Brunnen das Lebens- und Wohngefühl der kreolischen Oberschicht vermittelt.
Im Empfangssaal der Casa haben die Besucher Gelegenheit, auf einem wandfüllenden Ölgemälde im Mienenspiel Bolivars und Sucres die typische kreolische Physiognomie jener Jahre zu studieren: kühn die Nase, willensstark das Kinn und hart der Ausdruck der Augen, denen für die anhaltende Unterprivilegierung der indianischen Urbevölkerung der rechte Blick zu fehlen schien. Das ganze Haus, in dem der Marschall mit seiner ecuadorianischen Gemahlin Marquesa de Solenda lebte, dient der Repräsentation und der Legendenbildung für eine neue Elite: Waffen hinter Glas, Schlachtpläne an den Wänden, Fahnen an den Decken, gepflegte Salons mit Parkettfußböden und Teppichen verdeutlichen, was aus einem fähigen Caudillo in unruhigen Zeiten alles werden kann.
Nach der Ermordung Sucres im Alter von nur fünfunddreißig Jahren verschwanden, wie man es sich von Reliquien gerne erzählt, die sterblichen Überreste des Marschalls, wurden dann aber wunderbarerweise in einer kleinen Kirche wiedergefunden und in einem prachtvollen Grab in der Kathedrale von Quito beigesetzt. Im Salon der Casa Sucre kann der Besucher dazu mehrere makabre Stilleben betrachten: Fotografien zeigen Schädel und Knochen des großen Kriegers, mit Tüchern und Degen drapiert, dazu ertönt Verdis Requiem aus japanischen Lautsprechern.
Auf der Plaza Independencia endet der geschichtliche Rundgang durch Quito. In der Mitte des parkähnlichen Platzes kündet die Columna de la Libertad von der endgültigen Unabhängigkeit, die Ecuador durch seine Trennung von Kolumbien im Jahre 1830 erreichte. An der Basis der Säule windet sich ein muskulöser, aber verschüchterter Löwe aus Stein, Symbol der geschlagenen spanischen Macht für die einen, Wahrzeichen der gescheiterten großkolumbianischen Ambitionen für die anderen. Alle wichtigen Verwaltungsgebäude der Stadt stehen an der Plaza Indepedencia, links die Kathedrale, die nach der pünktlichen äquatorialen Dämmerung gegen 18.00 Uhr von einem malerischen Licht illuminiert wird, das Rathaus, der Palast des Erzbischofs und der zweistöckige Präsidentenpalast, der nach der Volksmeinung deswegen so relativ flach geblieben ist, damit die Präsidenten im Notfall durch die Fenster im zweiten Stock genauso schnell aus dem Präsidentenbüro verschwinden können, wie sie vorher über die breite Eingangstreppe hineingelangt sind.
Auch wenn die Bürgerkriege und gewalttätigen Regierungswechsel seit 1830 in Ecuador für lateinamerikanische Verhältnisse in einem bescheidenen Rahmen blieben, verliefen Machtergreifungen und Machtwechsel, kometenhafte Aufstiege und die überraschende Rückkehr mancher Politiker doch immer noch erheblich lebhafter als in den westeuropäischen Demokratien. Lateinamerikanischer Rekordhalter in diesem Metier ist Velasco Ibarra, der innerhalb von vier Jahrzehnten fünfmal zum Präsidenten gewählt (1934, 1944, 1952, 1960, 1968) und viermal gewaltsam verjagt wurde (1934, 1947, 1961, 1972) und dem es nur ein einziges Mal gelang, seine Amtszeit regulär zum Ende zu bringen.
Diese Episoden spiegeln die stürmische Entwicklung wider, die das gesamte Land seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ergriffen hat. Eine Zuwachsrate von weit über drei Prozent jährlich hat die Bevölkerungszahl Ecuadors auf über elf Millionen Menschen hochgetrieben. Das einst überschaubare Quito ist längst zu einer Millionenstadt herangewachsen. Auch wenn das größere und wirtschaftlich bedeutendere Guayaquil den Großteil jener urbanen Häßlichkeit auf sich gezogen hat, die mit derartig stürmischem Wachstum verbunden ist, beginnt die Beschaulichkeit des kolonialen Quito zu schwinden. Zwar bietet die Altstadt von Quito noch immer das Bild eines historischen Freilichtmuseums, in dem der Besucher zwischen Kirchen und Klöstern, in den Casas und unter den Arkaden der zahlreichen Plätze der Stimmung vergangener Jahrhunderte nachspüren kann, und auf den Märkten rund um die Placa Independencia und vor der Kirche St. Francisco brodelt ein ursprüngliches indianisches Leben. Auf der anderen Seite aber wird der geschlossenste kolonialspanische Stadtkern, den eine südamerikanische Hauptstadt heute zu bieten hat, unverständlicherweise tagtäglich von endlosen Blechlawinen durchpflügt. Ein kaum durchschaubares System von Einbahnstraßen bringt den öffentlichen Verkehr in der Altstadt nahezu an jedem Werktag zum Erliegen. Daß die Unesco die Altstadt von Quito zum kulturellen Menschheitserbe erklärt hat, bedeutet eben noch lange kein generelles Autoverbot für den Bereich zwischen dem Almeda-Park und dem Panecillo-Hügel. Nur manchmal, wenn der Präsident hohen Besuch erhält, wird die Altstadt von Quito weiträumig für den Verkehr gesperrt. Dann traben Gardesoldaten auf Schimmeln den Staatskarossen voran. Die Straßen sind frei. Die Luft ist besser. Und für einige Stunden wird jedem klar, wie schön das alte Quito ohne Autos sein könnte.

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