Mit dem Rucksack durch das globale Fotoalbum

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Ursprünge und Illusionen der Welterkundung auf eigene Faust

Keiner wusste so recht, woher sie kamen und was sie wollten. Sie kamen über Land oder mit dem Flugzeug aus dem Westen, aßen ihre Nudelsuppe und tranken ihren Tee, krabbelten heute durch den Dschungel und ließen sich morgen von der Sonne bescheinen. Sie waren so jung und unbedarft, wie sie Alex Garland in seinem Erfolgsroman „Der Strand“ beschrieben hat, und zugleich mit einem Narzißmus geschlagen, dem die Weite der Welt der Spiegel war.

Es dauerte nicht lange, da wurden die geschäftstüchtigeren Teile der Bevölkerung in Indien, Thailand und Indonesien auf die neuen Gäste aufmerksam. Gemessen an dem, was man vom sagenhaft reichen Westen hörte, waren die Neuankömmlinge eher arm, doch im Vergleich zu den lokalen Einkommensverhältnissen durchaus betucht, zahlungsfähig und -willig, wenn ihnen für kleine Aufschläge eine Hängematte hier, ein Frühstücksei dort oder eine kleine Exkursion geboten werden konnte. So entstanden die ersten Enklaven des Individualtourismus in den Bergen Balis, an den Küsten Indiens oder an den großen Flüssen Südostasiens. Permanent vermietete Strandhütten und Hängematten-Dormitorien der einfachsten Art waren die Ausgangspunkte der transasiatischen Backpacker-Bewegung, deren Versorgungsstationen sich von Jahr zu Jahr vermehrten und immer effektiver miteinander vernetzten. Zunächst nur durch Mundpropaganda verbreitet, fanden die beliebtesten Routen und Backpacker-Zentren seit Tony Wheelers Klassiker „South East Asia on a Shoestring“ in den siebziger Jahren Eingang in immer neu aufgelegte und präzisere Spezialführer. Neue Individualtouristen machten sich auf den Weg, neue „Guest Houses“ wurden gegründet, bis sich schließlich ganze Straßenzüge und Viertel in den asiatischen Hauptstädten oder an den Traumstränden des Südchinesischen Meeres zu Backpacker-Quartieren entwickelten.

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Heute, knapp zwei Generationen nach der Geburt dieser internationalen Reisebewegung, hat sich die Szene noch weiter aufgefächert. Katmandu-Thamel, Goa, die Khao San Road in Bangkok, Candi Dasa auf Bali und ganze Straßenzüge im australischen Darwin wurden zu den großen Drehscheiben des Backpacker-Tourismus – Dharamshala, Manali, Mahaballipuram in Indien, Hikkaduwa auf Sri Lanka, Chiangmai, Chaweng und Krabi in Thailand, Flores, Lombok und Yogjakarta in Indonesien sind einige ihrer bekanntesten Ableger. Manche, wie der Pham-Ngu-Lao-Bezirk in Saigon, sind bis heute kaum mehr als eine Aneinanderreihung unansehnlicher Straßenzüge, andere, wie Pokhara in Nepal, ähneln ganzjährig geöffneten riesenhaften Abenteuercamps; in Diu oder Kovalam befinden sie sich in der Nähe herrlicher Strände, in Darjeeling am Fuße unwirtlicher Pässe, doch ihr Lebensgesetz ist immer das gleiche: Sie existieren als Filiale einer Art transkontinentaler asiatisch-pazifischer Gesamtjugendherberge, in der eine unübersehbar große Schar dienstbarer Heinzelmännchen damit beschäftigt ist, den Gästen aus Übersee jeden nur denkbaren Wunsch für kleines Geld zu erfüllen.

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Eine Grundversorgung mit einheimischer Kost, nach der mancher Traveller in der Fremde mehr lechzt als er jemals vermutet hätte, oder alle Varianten der Beherbergung, angefangen bei Bretterverschlägen mit Holzpritschen bis zu gediegen-ruhigen Zimmern mit Gartenblick, stehen ebenso zur Auswahl wie Trekking-, Climbing- oder Rafting-Abenteuer, die als Komplett-Touren angeboten werden. Sei es die klassische Trekking-Tour im Norden des thailändischen Chiangmai, die selbst ein Fußkranker unternehmen kann, oder ein anspruchsvoller Aufstieg zum Everest Base Camp, sei es die „Tibet Adventure Tour“, die allwöchentlich Backpacker für einen Spottpreis quer durch den Himalaja nach Lhasa befördert, oder eine Vulkanbesteigung auf Java – keine Exkursion scheint zu gewagt, um sie nicht einem halben Dutzend schnell entschlossener Enthusiasten anzubieten. Auch die Weiterreise stellt die örtlichen Dienstleister vor keine Probleme: Flugtickets in jeden nur gewünschten Winkel der Erde sind ebenso zu buchen wie Reisearrangements samt Visa für die Nachbarländer – zu schweigen vom hochentwickelten Kollektivtransport zu den freundlichen Inseln des thailändischen Meeres, der etwa im Umfeld der Khao San Road von Bangkok allabendlich wie eine einzige große Kinderüberlandverschickung wirkt.

Diese unbekümmerte Inbesitznahme der Welt mit Hilfe agiler Einheimischer ist oft bemäkelt worden, ohne dass dies der Attraktivität der Szene wirklich hätte schaden können. Längst hat der Gestus der triumphierenden Jugendlichkeit auch diejenigen erfaßt, die ihr Studium lange hinter sich haben und dem Vorruhestand entgegensehen. Eine lebenslaufunspezifische Spontaneität und Individualität sind die vorherrschenden Ausdrucksformen dieser hochmobilen Lebensform, die sich für die Dokumentation ihrer Weltoffenheit ganz ungeniert aus dem asiatischen Kleiderschrank bedient. Shalwar-Qamiz, Longhie, Sari und Kopfbedeckungen unterschiedlicher Arten ergeben in ihrer Verbindung mit Piercings und Tattoos, Germanenzöpfchen, Sanyassin-Glatze und anderen kreativen Gestaltungskonzepten mitunter so bizarre Selbstentwürfe, dass man glauben mag, das kunterbunte Mittelalter sei außerhalb der europäischen Grenzen als Dress Code der reisenden Jugend wiedererstanden.

Allerdings hat die auch in den letzten Jahrzehnten unverändert anhaltende Erosion von Dong und Baht, Rupie und Kyatt und wie die Währungen der Gastländer heißen mögen, gegenüber Dollar, Pfund und Euro dem früher so kargen Individualtourismus längst eine Entwicklung ins Komfortable ermöglicht.

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Ganz im Unterschied zu den Pionieren der frühen Tage, die in den berühmten A-Frame-Hütten von Kosamui die Monsunzeit überstanden, mietet man sich inzwischen die besten Hütten am Strand, wohnt in geräumigeren Zimmern, schläft in besseren Betten und verspürt schon nach kurzen Phasen der Verpflegung mit einheimischer Küche einen unbezähmbaren Hunger nach Spaghetti, Pizza, Hamburger und Baguette – gerade so, als würde die Identität des englischen, französischen oder deutschen Backpackers weit jenseits der Grenzen Europas erst durch die kulinarische Anhänglichkeit an die jeweilige Landesküche definiert. Kein Wunder, dass in den Gartencafés von Kovalam, Kosamui, Thamel oder den Restaurants der Khao San Road immer ein reger Andrang herrscht: Abiturienten auf ihrer ersten großen Tour, erfahrene Asien-Enthusiasten, Frischverliebte oder graue Panther mit einem Rucksack voller unausgelebter Träume, Einzelreisende beiderlei Geschlechts, Gutbetuchte und sogar die sogenannten „Low Budget Touries“, die jede Rupie dreimal umdrehen müssen, lassen es sich schmecken. Denn neben Kaffee und Kuchen und einer allseits gesicherten Grundversorgung mit leichten Rauschgiften gibt es das Wertvollste an dergleichen Orten gratis: das Kollektivererlebnis von seinesgleichen im heimatlichen Ambiente. In dieser farbenfrohen Umgebung mit all den Saris, Seidenblusen, Reispflückerhosen, Shawls und Käppis wird sogar das milde Schläfengrau des reisenden Oberstudienrats neben dem tiefschwarzen japanischen Pagenschnitt zum farblichen Kontrast, und wer es nicht geglaubt hätte, wie weit und wie früh die Kinder der Industriegesellschaft in der Welt herumkommen, den belehrt ein einziger Blick durch das Restaurant des Kathmandu Guest House eines Besseren: Wie Positionsmarken einer imaginären Weltkarte lassen sich die typischen Weltreiserouten von den T-Shirts der Gäste ablesen: „Free Tibet“ und „Ko-Samui“ grüßem „Goa“, „Hongkong“ und „Singapur City“.

Übersieht man die imponierenden Itinerare, mit denen selbst junge Backpacker schon aufwarten können, und erlebt man die Effektivität, mit der von Thamel, Bangkok oder Darwin und all den anderen Logistikstationen des Individualtourismus aus die jungen Individualtouristen wie in einer Zentrifuge durch die ganze Welt geschleudert werden, drängt sich die Frage nach dem Ursprung und Sinn dieser juvenilen Reisewut auf. Die Lust an Abenteuer und Bewährung, die die Kinder der westlichen Nationen nicht mehr nach Zagreb und Rijeka, sondern einmal rund um den Annapurna oder über den Inkatrail treibt, erinnert den einen oder anderen an die Wandervogelbewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Andere wollen in den Backpackern unserer Tage die egalitären Nachfolger jener gutbetuchten Adelssöhne sehen, die sich im späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert auf Kosten ihrer Erzeuger eine „Grand Tour“ durch Italien gönnten, wobei Petersdom und Markusplatz nun durch Angkor, Pagan und Sukothai ersetzt werden. Wieder andere erkennen dagegen im Erscheinungsbild jugendlicher Vaganten an indischen Stränden weniger Childe Harold im Alpengewitter als jene Scholarenhorden, die am Beginn der europäischen Neuzeit massenhaft von einer europäischen Universitätsstadt zur anderen zogen, um dort anstelle des Studierens zu singen, zu zechen und zu zoffen.

Das alles sind Facetten im differenzierten Bild des modernen Individualtourismus, die das entscheidende Motiv jedoch nicht überdecken können. Die postmoderne Selbstreflexion, die Kunst und Wissenschaft, Literatur und Film ergriffen hat, ist auch in der jüngsten Geschichte des Reisens nachweisbar. Längst hat sich, nachdem die letzten Refugien der Welt entdeckt, erkundet, geschäftlich ausgewertet und touristisch erschlossen wurden, das Telos des Reisens von der Erkundung der Außenwelt zum Selbsterlebnis während der Reise verschoben. „Sensation ist das große Ziel unseres Lebens“, schrieb Lord Byron, der große Vormoderne, am 6. September 1813, „das Gefühl, dass wir leben, wenn auch unter Schmerzen. Es ist diese sehnsuchtsvolle Leere, die uns zu Spielen, Schlachten und zu Reisen treibt.“ Gegenüber dieser „Sehnsucht“ nach Selbstempfindung war Lord Byrons Einsatz für die Sache der Hellenen im griechischen Freiheitskampf möglicherweise ebenso zweitrangig wie Livingstones Kampf gegen den Sklavenhandel oder Thor Heyerdahls Idee von der Pazifikfahrt der südamerikanischen Indianer: Hauptsache, es gab einen Grund, die stationäre Existenzweise hinter sich zu lassen und aufzubrechen, wohin man wollte.

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Der internationale Rucksacktourismus hat diese Selbstbezüglichkeit als massenhaften Kultursolipsismus auf eine paradoxe Spitze getrieben – paradox deswegen, weil sich in ihr Globalität und Provinzialität, verbunden mit einer bemerkenswerten Sorglosigkeit, die Waage halten. Dass die ganze Welt in ihrer kulturellen Fülle und Reichhaltigkeit zum Minimaltarif einer Altersgruppe zu Füßen liegt, dass ihre Durchreisung von einer Backpacker-Filiale zur nächsten buchstäblich ein Kinderspiel geworden ist, wird man als Faktum anerkennen müssen, ohne deswegen auf einen Gewinn an Weltläufigkeit und Multikulturalität schließen zu können. Denn gerade die Mühelosigkeit dieser globalen Erkundungen begünstigt die Entstehung merkwürdig verzerrter Wirklichkeitsauffassungen, so dass das Mehr an Welterleben sehr oft mit einem Weniger an Weltverständnis einhergeht.

In der sorglosen Bereisung auch exotischster Regionen verliert die Fremde ihren erzieherischen Charakter, und die Welt als Ganzes schrumpft zu einer Art Bonbonautomat, dessen Süßigkeiten auf dem Silbertablett serviert und nach Belieben ausgetauscht werden können. Wie kurios und teilweise autistisch sich die Touren durch den großen asiatischen Garten vollziehen, dokumentierte schon Paul Theroux, der Autor des Kultbuchs „The Grand Railway Bazar“, als er sich im Jahre 1975, in der Endphase des Vietnam-Kriegs, darin gefiel, in einem offenen Eisenbahnwaggon von Hue nach Da Nang zu reisen. Diese Attitüde einer spannenden Klassenfahrt, die von der Komplettversorgung in den Zentren des Backpacker-Tourismus auf die Ungefährlichkeit ausgewiesener Krisengebiete schließt, führt die Rucksacktouristen bis heute nach Mindanao im Süden der Philippinen, in die nordwestlichen Provinzen Pakistans und in die Bergregionen im indischen Teil Kaschmirs, wo in den vergangenen Jahren mehr als ein Dutzend Individualreisende im Abgrund ihrer eigenen Sorglosigkeit verschwunden sind. Und  dass Alex Garland in seinem Buch „Der Strand“ seine Travellergemeinde ungerührt in der Nachbarschaft eines Drogenanbaugebiets planschen und sonnenbaden läßt, ist kein kurioses Phantasieprodukt, sondern die zutreffende Beschreibung eines mobilen Autismus, dem die Welt nichts anderes ist als der Resonanzboden seiner selbst. Auf die Spitze getrieben hat es Carl Hoffmann, der ganz bewusst auf den „Hauptschlagadern des Reisens“ mit den gefährlichsten Fortbeweungsmitteln der Welt einmal die Erde umrundete.

So durchreisen viele der Jünger von Tony Wheeler und Paul Theroux die asiatisch-ozeanische Welt, als stiegen sie in große Bilderbücher, in denen sie die Ghats von Varanasi, das Khumbu Valley, den Karakorum Highway und die Traumstrände des Südchinesischen Meeres mit einer lustvollen Mischung aus Fremde und Geborgenheit authentisch zu erleben glauben – wobei sich der Genuss dieser Unmittelbarkeit unausgesprochen aber immer auch aus der Überzeugung speist, dieses Fotoalbum jederzeit, schnell und sicher schließen, also: verlassen zu können. Diese Art des Reisens ist nicht nur zutiefst sentimental – sie hat auch etwas von der Weltexplorierung neugieriger Kleinkinder, die die Mutter nie aus dem Auge verlieren wollen und doch gelegentlich verlorengehen. „Wie daheim, nur sehr weit weg“ fühlt man sich sauwohl in den indischen, thailändischen oder indonesischen „Backpacker Hostels“, genießt im heimatlichen Ambiente sein Abendessen zur obligatorischen Videoberieselung. „Terminator“, „Superman“ oder „Dirty Harry“ feuern ihre Salven gegen eine imaginäre Welt von Feinden, und draußen fährt ein asiatischer Langnese-Mann auf einem beleuchteten Fahrrad mit einer Drehorgel vorüber.

(erstmals veröffenticht im Reiseteil der FAZ 2005)

 

 

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